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1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)

1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)

Titel: 1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Ebert
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Angstschreie der Zufluchtsuchenden. Dem alten Mann vorm Altar riss eine Gewehrkugel die Wange blutig. Die Kinder brüllten und kreischten jetzt fast alle, während in der Nähe der Kirche in schneller Folge noch mehr Kugeln einschlugen.
    »Ich habe uns genau ins Zentrum der Hölle geführt!«, murmelte Felix verzweifelt aus Sorge um Jette.
    »Wollten wir nicht genau dorthin?«, flüsterte sie zurück.
     
    Henriette zog sich zwei Glassplitter aus der linken Hand, sog die Blutstropfen vom Handrücken, stand auf und rief: »Kinder, hört her! Kommt alle zur mir! Wir unternehmen jetzt etwas, damit ihr euch nicht länger fürchtet.«
    Ein paar Jüngere rannten sofort vertrauensvoll zu ihr. Schließlich war diese Unbekannte der Engel, der Elfie und Paula das Leben gerettet hatte!
    Die anderen wurden von den Eltern geschickt. Das hier war alles schon schrecklich genug, auch ohne dass die Kinder um die Wette heulten. Vielleicht konnte dieses fremde Mädchen sie etwas ablenken.
    Rasch sah Jette in die Runde der knapp drei Dutzend Kinder, die sich um sie drängten. Zwei Kleinere hatten sich vor Angst eingenässt. Mit einem strengen Blick brachte sie einen etwa Achtjährigen zum Verstummen, der sie deshalb verspotten wollte.
    »Ihr kennt doch alle das Vaterunser?«, fragte sie und erntete ein vielfaches »Ja«. Einen schmerzvollen Augenblick lang musste sie an Franz und seine Spottversion denken, aber diese Erinnerung unterdrückte sie sofort. Das war ihr vergangenes Leben. Franz ging es gut. Punktum!
    »Also werden wir es jetzt alle gemeinsam aufsagen. Wenn ihr das ohne Stocken zu Ende bringt, erzähle ich euch ein paar schöne Geschichten.«
    Sie faltete die Hände und begann, das Gebet aufzusagen. Gewohnheitsmäßig fielen die Kinder darin ein, sogar viele der Erwachsenen, und wie Jette gehofft hatte, beruhigte das gemeinsame Sprechen der altbekannten Formel die verängstigten Kinder.
    »Amen!«
    Jette holte tief Luft und lächelte. »Das habt ihr sehr schön gemacht. Der Vater im Himmel hat es gehört und wird euch beistehen.«
    Dann forderte sie die Mädchen und Jungen auf, sich im Kreis um sie zu setzen, und fing Geschichten zu erzählen an, die Felix noch nie gehört hatte: von Feen, Zauberern und Einhörnern, von Riesen und Zwergen, Elfen und Nixen, guten und bösen Geistern, von fleißigen Menschen, die alles verloren, aber denen zum Lohn für ihre guten Taten ein Wunder aus der Not half.
    Felix war sprachlos. Er wusste nicht, woher sie all das nahm, während draußen Schüsse hallten, beißender Pulverdampf und eisiger Wind durch die zersplitterten Kirchenfenster zogen. Einiges erkannte er wieder aus den romantischen Märchen von Novalis, anderes aus uralten Ritterepen, aus Shakespeares Komödien oder Legenden, die von Generation zu Generation weitererzählt wurden. Aber sie schien von allem etwas zu nehmen und dichtete daraus eine völlig neue Geschichte – genau für diesen einen Moment ersonnen, um diesen Kindern und ihren Eltern in einer schrecklichen Stunde Mut zu machen und sie davon abzulenken, was draußen geschah.
    Denn dort ging wirklich Schreckliches vor sich.
    Selbst nach seiner kurzen Zeit beim Militär konnte sich Felix anhand des Kampflärms ein ziemlich genaues Bild davon machen. Der Ort wurde von einer gewaltigen Batterie beschossen, das mussten mehr als hundert Geschütze sein. Dann stürmten alliierte Truppen – den Rufen nach Österreicher – in das Dorf, es gab heftige Kämpfe Mann gegen Mann direkt vor der Kirche. Die Österreicher wurden von den Franzosen wieder zurückgedrängt, wagten bald darauf den nächsten Sturmangriff.
    Das konnte so noch bis Sonnenuntergang gehen, und niemand wusste, ob nicht auch die Kirche unter massives Geschützfeuer geriet, statt nur dann und wann von einer Kugel getroffen zu werden. Das Schlimmste stand ihnen womöglich noch bevor.
    Darum erschien es ihm wie ein Wunder, dass es Jette gelang, nur mit ihrer Stimme und den Geschichten, die gerade erst ihrer Phantasie entsprangen, die Dorfbewohner zu beruhigen, solange sie nichts anderes tun konnten, als zu warten, zu frieren und sich zu fürchten.
    Nicht nur die Kinder lauschten mucksmäuschenstill, nur ab und an zwischendurch in ein Jauchzen oder Lachen ausbrechend. Auch viele der Großen schienen von ihrer Erzählung gebannt. Manche wischten sich verstohlen Tränen aus dem Gesicht.
    Felix ahnte nicht, dass Jette schon seit langem Geschichten schrieb. Das wusste niemand außer ihrem Vater, der im April gestorben

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