1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
Referenzen. Er lobt Sie in höchstem Maße. Sie seien sogar den Ärzten bei Operationen zur Hand gegangen …«
Anscheinend war das junge Mädchen vor ihm doch nicht so zartbesaitet, wie es wirkte.
»Gehen Sie in die Thomaskirche und melden Sie sich beim leitenden Chirurgen!«, wies er sie an.
»Gibt es da einen Schlafplatz für mich? Ich habe kein Quartier in Leipzig …«
Der Mann seufzte. »Auch das noch! Ich kann Sie weder hier noch dort zwischen all den Männern schlafen lassen. Aber bei so beeindruckenden Referenzen sollte ich wohl nicht auf Ihre Hilfe verzichten. Es sind außergewöhnliche Zeiten …«
Er nahm ein Blatt Papier, kritzelte etwas darauf und reichte es ihr. »Gehen Sie zu meiner Schwester. Sie ist Witwe, wohnt in der Nikolaistraße und vermietet an Studenten, nur an junge Männer aus allerbesten Familien. Dort wird wohl jetzt etwas frei geworden sein. Gewiss nimmt sie lieber Sie umsonst auf als ein halbes Dutzend Franzosen, die auch noch beköstigt werden wollen. Stellen Sie sich bei ihr vor, bevor Sie sich im Hauptlazarett melden, und richten Sie ihr die herzlichsten Empfehlungen von ihrem Bruder aus.«
Die Zimmerwirtin entpuppte sich als eine würdevolle und wortgewaltige Dame in einem schwarzen Kleid mit breiten Spitzen und aufgetürmten eisgrauen Locken. Sie las den Brief durch ein Lorgnon und musterte Henriette von oben nach unten. »Mein Bruder irrt, ich
habe
Einquartierung. Einen
General!
Sehr anspruchsvoll, der Herr«, sagte sie gereizt. »Ich kann Ihnen höchstens ein Bett in der Dachkammer anbieten. Dort schlief mein Dienstmädchen, aber das ist mit einem französischen Korporal durchgebrannt.«
Als Henriette sich damit einverstanden erklärte, gönnte sie ihr ein wohlwollendes Lächeln und einen Haufen gutgemeinter Ermahnungen.
Beim Betreten des Marktplatzes verharrte Jette erschrocken. Hunderte Menschen drängten sich um einen Wagen mit Brot, schrien, schubsten und prügelten sich, Männer und Frauen gleichermaßen. Manche von denen, die weiter hinter standen, boten lauthals schreiend den doppelten Preis für einen Laib. Ein Stück abseits schlugen sich zwei Frauen um ein Brot, das dabei auf die Erde fiel und sofort von einem Straßenjungen weggeschnappt wurde, der frohlockend mit seiner Beute davonrannte.
»Das ist der letzte Wagen Brot, der aus den Dörfern nach Leipzig durchgekommen ist«, wehklagte neben ihr eine Frau, die einen Säugling auf dem Arm hielt und an der Hand mehrere kleine Kinder. »Wie soll ich die nur alle satt kriegen, und meinen kleinen Richard dazu?«
Kummervoll drückte sie den Säugling an sich.
»Das hätten Sie wohl nie gedacht, Frau Wagner, als Tochter eines Bäckers einmal kein Brot zu haben, was?«, meinte verbittert eine magere Alte, die sich zu ihnen gesellte.
»Haben Sie nicht davon gehört? In jede Leipziger Bäckerei sind doppelte Wachen geschickt worden und sorgen dafür, dass die Leipziger Bäcker nur noch für die französische Armee backen«, erwiderte Johanna Rosine Wagner.
Ein Mann in schmutziger Kleidung und mit durchtriebenem Gesichtsausdruck kam auf die kleine Gruppe zu. Mit beiden Händen hielt er einen Brotlaib umklammert und zeigte ihn den Frauen wie eine Kostbarkeit.
»Wollen Sie Brot? Aber es kostet heute das Dreifache.« Er grinste, wobei er ein paar schwarze Zahnstummel entblößte.
Rasch wandte sich Jette ab und ging weiter. Sie wollte nicht wissen, ob die Frauen in ihrer Notlage auf diesen Wucher eingingen.
Bis zur Thomaskirche waren es nur noch etwa dreihundert Schritte. Henriette atmete tief durch. Dann gab sie sich einen Ruck und öffnete die hölzerne Tür.
Schon auf den ersten Blick sah sie, dass die Not und das Elend hier alles überstiegen, was sie in den Lazaretten von Weißenfels und Freiberg erlebt hatte. Das Gestühl war schon herausgeräumt worden, als die Franzosen die Kirche als Lager zweckentfremdeten. Jetzt war das gesamte Kirchenschiff mit Verwundeten und Fiebernden gefüllt, aber die lagen auf dem nackten Boden und hatten nicht einmal etwas Stroh, um die Kälte von unten abzuhalten.
Und da war er wieder, der
Geruch von Schmerz.
Entsetzte Schreie gellten von rechts: »Nicht mein Bein! Weg mit euch! Ich will mein Bein behalten!«
Also ging sie dorthin, um sich eine Arbeit zuteilen zu lassen.
Das Donnern der Kanonen war auch in der Kirche zu hören, trotz des Stöhnens und der Schmerzensschreie der Verwundeten. Irgendwann, Mittag musste wohl schon vorbei sein, begannen die Glocken zu
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