1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
läuten, und zwar im Vielklang, von mehreren Kirchen.
Henriette, die gerade einem alten Grenadier etwas zu trinken einflößte, wandte den Kopf zur Tür in der Hoffnung, jemand würde dort auftauchen und ihnen sagen, was geschehen war.
Der Grenadier sah nach oben zur Decke. Tränen rannen über seine runzligen Wangen. Dann packte er ihren Arm und sagte freudestrahlend: »L’Empereur! Victoire! Wir haben gesiegt!«
Kraftlos fiel er zurück; das Lächeln blieb auf seinem Gesicht, als der letzte Rest Leben aus ihm schied.
Einer der Chirurgen rief vom Operationstisch zu ihr herüber: »Gehen Sie auf den Turm, rasch! Finden Sie heraus, was geschehen ist und wer gesiegt hat!«
So schnell sie konnte, stieg Henriette die Stufen hinauf.
Würde die schreckliche Zeit der Besatzung weitergehen? Oder hatten die Alliierten gesiegt? Und falls ja, wie würden sie mit der Stadt verfahren? Hier hielten sich noch Tausende französischer Soldaten auf, die zahllosen Verwundeten nicht mitgezählt, und die ganze Stadt war verschanzt.
Auf dem Turm blies ein eisiger Wind und zerrte an Jettes Kleidern. Es standen noch andere Menschen dort und hielten Ausschau: ein alter polnischer Offizier, der wahrscheinlich den Franzosen regelmäßig Bericht erstatten sollte, ein Offizier in sächsischer Uniform, sicher im Auftrag des Königs hier, ein Herr in sehr vornehmer Kleidung, vielleicht einer der Ratsleute, und ein Mann, der gar nicht damit aufhörte, Notizen in ein Oktavheft zu schreiben.
Doch als Henriette noch einen Schritt vortrat und auf die Stadt und ihre Umgebung sah, zuckte sie vor Entsetzen zurück. Es fühlte sich an, als würde eine Hand aus Eis ihr das Herz mitten in der Brust abdrücken.
Der Ausblick vom Turm war alptraumhaft und niederschmetternd. Rund um Leipzig, so weit das Auge reichte, war alles schwarz von Menschen und Pferden.
An vielen Stellen stiegen Rauchsäulen empor. Häuser und Gehöfte standen in Flammen. Kanonenfeuer blitzten auf, bis Pulverdampf vorübergehend die feuerspeienden Schlünde verhüllte. Doch wie sie Krater in die Erde und verheerende Lücken in die gegnerischen Reihen rissen, konnte Henriette erkennen. Wie es von hier oben aussah, wurden überall die Alliierten zurückgedrängt. Und eine Leipziger Kirche nach der anderen fiel in das Geläut ein.
»Weshalb läuten die Glocken?«, fragte sie den Mann mit dem Oktavheft, da sie es nicht wagte, die anderen anzusprechen.
»Zu Napoleons Sieg!«, antwortete Ludwig Hußel. »Ich weiß es vom Türmer, der erhielt den Befehl vom Stadtkommandanten. Und der wiederum von Marschall Ney . Steigen Sie mit mir wieder hinunter, Fräulein, Sie frieren sich ja fast zu Tode! Sehen wir mal, was wir auf dem Markt noch herausfinden. Vor dem Quartier des Königs scheint etwas im Gange zu sein …«
Widerspruchslos folgte Jette ihm.
Unzählige Menschen waren zum Marktplatz geströmt, um den Grund des Glockenläutens in Erfahrung zu bringen.
»Sieg, Sieg!«, schrien einige.
»Wer hat denn gesiegt, ihr Tölpel? Napoleon oder die Alliierten?«
»Ist Napoleon vielleicht tot?«
Vor dem Haus, in dem der König logierte, standen Dutzende Offiziere. Die Leipziger Bürgergarde unter dem Kommando ihres Anführers Lenz paradierte gemeinsam mit der Leibgrenadiergarde, eine Militärkapelle spielte trotz des Kanonendonners von allen Seiten einen schnellen Marsch.
Eine Siegesfeier für die Franzosen?
In Jettes Nähe lagen sich mehrere Menschen in den Armen und weinten. Andere überboten sich mit Gerüchten.
Ein preußischer Prinz habe einen Arm verloren, behauptete eine rundliche Frau mit einer großen Haube.
»Nein, ein französischer General ein Bein«, widersprach ein geckenhaft gekleideter Mann.
»Aber deshalb läuten sie doch nicht die Glocken!«
»Achtzehntausend Österreicher sind gefangen genommen. Und General Thielmann!«, rief jemand in der Uniform der Leipziger Bürgergarde.
»Der Torgauer, der zu den Russen übergetreten ist?«, fragte eine junge Frau mit einem Kind auf dem Arm. »Schade um den tapferen Mann! Den werden sie wohl gleich exekutieren …«
»Aber hört doch auf den Kanonendonner!«, rief einer der Schankgehilfen aus Auerbachs Keller. »Sie kämpfen immer noch! Also ist noch gar nichts entschieden!«
Aus Richtung Lindenau im Westen, Markkleeberg im Süden und Möckern im Norden dröhnte der Gefechtslärm bis zum Markt. Rund um die ganze Stadt war das Schlachten im Gange.
»Die Schlacht ist für die Verbündeten vollkommen verloren!«,
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