1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
Unterhandlungsangebot.
Sollten sie nicht antworten, würde ihm sein Schwiegervater trotzdem aus der Patsche helfen. Darauf konnte er sich nun wieder voll und ganz verlassen, nachdem Merveldt gestern Abend aufgetaucht und heute mit der Offerte und einem streng vertraulichen Brief an Kaiser Franz von Österreich fortgeritten war.
Das Staunen im Röthaer Schloss, dem Hauptquartier der Alliierten, war groß, als der totgeglaubte General sehr lebendig dort auftauchte und verkündete, er bringe ein Angebot Napoleons zum Waffenstillstand.
»Warten Sie!«, unterbrach ihn sofort theatralisch Kaiser Franz. »Hier soll kein Wort darüber fallen, ohne dass die anderen Hohen Alliierten zugegen sind!« Der Zar, der König von Preußen und Fürst Schwarzenberg sollten unverzüglich herbeigebeten werden.
Der Herrscher Österreichs war überaus erleichtert, dass Merveldt seine gefährliche Mission doch hatte ausführen können. Es konnte nicht leicht gewesen sein, sich von den Franzosen gefangen nehmen zu lassen, ohne erschossen und ohne von den eigenen Leuten für einen Überläufer gehalten zu werden.
Die Friedensangebote seines Schwiegersohnes waren nicht das Wichtigste an dieser Sache; auf weniger als bedingungslose Kapitulation würden Alexander von Russland und Friedrich Wilhelm von Preußen ohnehin nicht mehr eingehen. Und die würde Napoleon niemals akzeptieren.
Wirklich
entscheidend
war etwas anderes, auch wenn das nur er, Bonaparte und Merveldt wussten.
Ganz gleich, was morgen geschah: Napoleon wusste unter der Hand, die Rückzugsstraße würde ihm frei gehalten. Und das machte ihn weniger gefährlich. Den genialsten Feldherrn seiner Zeit wie einen Tiger im Käfig in die Ecke zu drängen, in eine ausweglose Lage, würde ihn nur zu einem Verzweiflungskampf mit unberechenbaren Folgen provozieren.
Außerdem hatte Metternich recht: Frankreich durfte nicht vollkommen vernichtet werden. Sonst würden Preußen und Russland zu mächtig, und Österreich hätte dann das Nachsehen. Er würde Frankreich einen »milden Frieden« offerieren.
Der zurückgekehrte General Merveldt trug das Angebot des Kaisers der Franzosen den Monarchen vor. Doch die waren sich ungewöhnlich schnell und diskussionslos darin einig, es keiner Antwort zu würdigen. Wenn die weiteren Truppenverstärkungen erst da waren, konnte nichts mehr ihren Sieg aufhalten.
Angst beherrschte Leipzig.
Wer von den Bewohnern einen Ausblick aus der Höhe hatte, sah die gewaltigen Mengen Soldaten, Kanonen und Pferde rund um die Stadt; jenes erschütternde Panorama, das Henriette sprachlos gemacht und mit Entsetzen erfüllt hatte.
Als am Morgen das Kanonengewitter ausblieb, flackerte Hoffnung auf, wenigstens für einen Moment. Vielleicht respektierten ja beide Seiten den Sonntag?
Doch wer sich zum Gottesdienst auf die Straße wagte, verlor alle Hoffnung. Jede Kirche dieser Stadt war zum Lazarett geworden. Nur in Sankt Nikolai wurde noch die Sonntagsmesse gelesen, und dort drängten sich die Menschen um einen Platz auf der Suche nach Trost.
Nach einer schrecklichen Nacht voller Alpträume ging auch Henriette zum Gottesdienst in die Nikolaikirche.
Hier wollte sie um Frieden bitten, bevor sie sich wieder um die Leidenden im Lazarett in Sankt Thomas kümmerte. Darum, dass das Morden ein Ende nahm. Um das Kind trauern, das sie verloren hatte. Und sie wollte ein Gebet für alle sprechen, die ihr am Herzen lagen, ehe sie sich wieder dem Grauen zuwandte, das sie für den Rest des Tages im Lazarett erwartete.
Doch das Grauen lauerte bereits auf den Straßen der Stadt.
Jette beging den Fehler, nach der Messe über die Grimmaische Straße zur Thomaskirche gehen zu wollen. Die ganze Straße lag voll von Verwundeten, die in den Lazaretten keinen Platz mehr gefunden hatten – vom Neumarkt, wo das Kornhaus stand, zum Naschmarkt und von der Börse bis zum Rathaus.
Sie stöhnten, sie schrien, sie baten um Hilfe oder um Wasser, versuchten, sich vorwärtszuschieben, über Leichname in blutigen Lachen und ohne jede Rücksicht über die zerschmetterten Gliedmaßen ihrer vor Schmerz brüllenden Kameraden hinweg.
Es war mehr, als Jette ertragen konnte, obwohl sie schon viel Leid gesehen hatte. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, zwischen den Leidenden balancierend und immer in ängstlicher Erwartung, es würde sie wieder jemand am Knöchel packen, für den sie nichts tun konnte.
Das war ihre Wirklichkeit gewordene
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