1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
Mauern einstürzen ließen, die Henriette um sich aufgebaut hatte.
Von Kummer überwältigt, fiel sie ihrem überraschten Cousin um den Hals und barg ihr Gesicht an seiner Schulter.
»Ich wollte euch nicht weh tun«, stieß sie hervor. »Sag deinen Eltern, dass ich lebe und sie sich nicht sorgen sollen. Vielleicht, wenn das hier alles vorbei ist … Wer weiß, wie das Leben dann aussieht …«
Eduard schlang seine Arme um Henriette, wärmte sie und genoss es, sie zu halten. Seit beinahe einem halben Jahr hatte er diesen Moment ersehnt! Nur nicht unter solchen Umständen. Nach einer unendlich scheinenden Zeitspanne löste sich Henriette von ihm.
»Und nun geh! Bring dich und Franz in Sicherheit, bitte! Ihr könnt hier nichts ausrichten. Ihr seid jetzt beide meine Brüder. Ich will euch beide nicht verlieren.«
Jäh drehte sie sich um, griff nach dem Eimer und ging wieder in die Kirche, zu den Sterbenden.
An diesem Sonntag um zwei Uhr mittags trat im Speisezimmer des Röthaer Schlosses der Große Kriegsrat der Alliierten zusammen, mit allen höheren Heerführern und Gesandten.
Leipzig war umschlossen. Sämtliche Truppen sollten laut Disposition des Oberbefehlshabers am nächsten Morgen um acht Uhr mit dem Angriff beginnen.
Als der Abend anbrach und damit feststand, dass die Alliierten auf sein Angebot nicht antworten würden, traf Napoleon Bonaparte gleichfalls seine Vorbereitungen für den nächsten Tag. Er verstärkte die Truppen im Süden, auch wenn er den Norden damit ein Stück entblößte. Es war wichtig zu zeigen, dass seine Armee hier die Stellung hielt.
Am Ende
Vorwerk Heiterer Blick nahe Paunsdorf, nordöstlich von Leipzig, 18 . Oktober 1813 , morgens
I ch will nicht mehr!«
Trotzig ließ sich Anton Tröger in den Morast plumpsen und hieb mit den Stöcken auf seine Trommel ein – nicht laut auf das Trommelfell, sondern ganz leicht auf die Kante. Und dennoch unverkennbar: la Retraite, das Signal zum Rückzug.
»Bist du verrückt?«, zischte sein Bruder Karl und riss ihm die Stöcke aus der Hand. »Willst du vors Kriegsgericht, weil du Rückzug trommelst, ohne dass der Befehl dazu gegeben wurde?«
»Ist doch scheißegal!«, schrie Anton mit ungewöhnlicher Wut. »Ob sie mich nun gleich abknallen oder in zwei Stunden. Wir gehen heute doch sowieso alle drauf! Wenn wir nicht vorher verhungern.«
Jetzt fing er auch noch an zu heulen. Rotz und Wasser liefen über sein dreckverschmiertes Gesicht, und dass er mit dem Ärmel darüberfuhr, machte die Sache nicht besser.
Hilflos starrte Karl auf seinen Bruder, und ihm war dabei zumute, als sähe er ihn nach langem zum ersten Mal wieder. Anton war immer klein gewesen für sein Alter, doch jetzt war er bis auf die Knochen abgemagert. Kein Wunder! Sie waren nun dem Bataillon Prinz Anton der sächsischen Armee zugeteilt, hatten seit sieben Tagen kaum noch Proviant bekommen, mussten in Nässe und Kälte biwakieren und durften zumeist nicht einmal ein Feuer entzünden. Sie marschierten den ganzen Tag und manchmal sogar die Nacht hindurch.
»Komm schon, reiß dich zusammen!«, versuchte er, seinen Bruder aufzumuntern. Gleich war Inspektion, der Leutnant sah schon zu ihnen herüber. Alle wussten, dass sie hier bei diesem Vorwerk namens Heiterer Blick den Anführer des Siebenten Korps erwarten sollten, General Reynier. Und es würde nicht auszumalenden Ärger geben, wenn sie bis dahin ihre schlammverschmierten Uniformen nicht in Ordnung gebracht hatten und stramm in Reih und Glied standen.
Weil Karl erkannte, dass sein kleiner Bruder wirklich am Ende war, versuchte er es mit einer Schmeichelei.
»Du bist doch ein ganzer Kerl, ein Tambour der Grande Armée! Noch dazu in einem Bataillon, das wie du heißt: Anton. Und wenn es das nächste Mal etwas zu essen gibt, kriegst du meine Ration, versprochen. Bis auf den letzten Happen.«
»Ich will kein ganzer Kerl sein, ich bin erst zwölf!«, schrie Anton. »Ich will weg von hier, nach Hause, wo es warm ist, wo ich ein Bett hab und nicht verhungern muss. Wo sie nicht jeden Tag ein paar meiner Freunde totschießen!«
Er sah seinem Bruder direkt ins Gesicht und betonte jedes Wort überdeutlich: »Und ich scheiße auf die Grande Armée.«
»Bist du …«, fuhr Karl auf, aber Anton ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Die scheißen ja auch auf uns! Wir kriegen kein Essen, müssen sinnlos in der Gegend herumlaufen und uns abknallen lassen. Und am Ende sind wir noch schuld daran, wenn die Preußen ihnen eine in die
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