1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
letzten Sachsen daran hindern wollten, auch noch überzulaufen.
»Ihr Tölpel, wir sind doch noch hier!«, schrie Karl ihnen entgegen. »Wir bleiben unserem König treu!«
Nun brach die Hölle aus: Kanonenkugeln von allen Seiten, Kartätschenfeuer … und dann noch etwas, das Anton einen Heidenschrecken einjagte: merkwürdige Geschosse, die mit großem Getöse hoch in den Himmel stiegen und sich dann pfeifend, zischend und qualmend auf sie niedersenkten, Feuer und Eisen speiend.
»Bei allen Heiligen, was ist das?«, japste er.
»Eine neumodische Erfindung der Engländer, sie nennen sie Raketen«, erklärte ihm Friedhelm. »Aber lass dir davon keine Angst einjagen, Kleiner, die können überhaupt nicht zielen mit den Dingern …«
Die letzten Sachsen erhielten Befehl, sich für den Rückzug nach Sellerhausen zu formieren. Anton schaffte es kaum noch, die Trommelstöcke zu halten, geschweige denn Signal zu geben.
Ob die anderen von den Russen was zu essen kriegen?, dachte er niedergeschmettert.
Er versuchte gerade, sich an den Duft von frischem Brot zu erinnern, als eine flach aufschlagende Kartätsche vor ihm zerplatzte und Eisenstücke seine Brust und die Trommel durchschlugen.
Sein Bruder Karl schrie auf wie ein waidwundes Tier. Er rannte los, sank neben Antons blutüberströmtem Leichnam auf die Knie und umklammerte den mageren, reglosen Körper.
Den Befehl des Leutnants, sofort wieder seinen Platz in der Linie einzunehmen, ignorierte er.
»Das kannst du doch nicht machen, Kleiner«, schluchzte er. »Du kannst doch jetzt nicht einfach schlappmachen … Komm schon, steh auf! Was soll ich denn sonst Mutter sagen?«
Des Königs Schlaf
Leipzig, 18 . Oktober 1813
N acht lag über der Stadt. Furcht lag über der Stadt.
Furcht
beherrschte
die Stadt.
Wer von ihren verängstigten Bewohnern aus einem der Dachfenster blickte, der sah, wie sich der glutrote Schein der Wachtfeuer und brennenden Dörfer rund um Leipzig gegen den schwarzen Himmel erhob, den der dünne Mond nicht zu erhellen vermochte.
Auch König Friedrich August von Sachsen stand am Fenster seines Quartiers im Apelschen Haus und starrte hinaus. Doch sein Blick war auf den Markt gerichtet, wo der rote Feuerschein nicht zu sehen war, nur hektisches Hin und Her, das den Abzug der französischen Truppen bezeugte: galoppierende Reiterabteilungen, marschierende Kolonnen, Verwundetentransporte, schwer beladene Trainwagen, ob nun mit Munition oder Kriegsbeute.
Aber auch das nahm der König von Sachsen nur beiläufig wahr. Seine Gedanken waren ganz auf sich und den kommenden Tag gerichtet. Darauf, wie er sein Königreich, diese Stadt und sein Volk retten würde.
Draußen auf den Feldern froren und hungerten Soldaten ungezählter Nationen. Tausende Verwundete schrien vor Schmerz oder verbluteten stumm. Unzählige seiner Untertanen waren ohne Obdach, hatten den Sohn, den Vater oder den Mann im Krieg verloren.
Doch König Friedrich August von Sachsen, Herzog von Warschau, war die Ruhe selbst und mit Gott, sich und der Welt vollkommen im Reinen.
Er hatte wie jeden Tag zwei Stunden gebetet, gebeichtet und Absolution erteilt bekommen. Somit war er von allen Sünden und Fehlern freigesprochen.
Rein und unschuldig stand er vor Gott und der Welt da.
Er war nicht der hilflose, ahnungslose alte Mann, für den ihn viele hielten.
Er war
der König.
König von
Gottes
Gnaden, nicht von Napoleons , wie seine Feinde schmähten. Er war der rechtmäßige Erbe einer Dynastie, die seit sechshundert Jahren über dieses Land und noch viel größere Gebiete herrschte.
Mit der ihm von Gott verliehenen Macht und Gottes Segen würde er das Schicksal von seinem Land abwenden, vor dem die einfachen Menschen sich fürchteten.
Sie waren verzagt, das hatte er schon bei seiner Ankunft in Leipzig zu spüren bekommen. Wie war er sonst umjubelt worden, wenn er die Stadt besuchte! Stundenlang hatten die Menschen selbst bei Regen dicht gedrängt gewartet, nur um ihn zu sehen und ihm ihre Verehrung zu bezeugen. Die Liebe seiner Untertanen, seiner Kinder.
Wie anders verlief es diesmal! Schon die Umstände seiner Reise waren erniedrigend: von Napoleon dazu genötigt zu werden!
Doch er würde nie an der Vorsehung zweifeln. Dank seiner Festigkeit im Glauben würde er auch diesmal nicht enttäuscht werden. In allem Schlechten steckte auch der Keim zu etwas Gutem. Wäre er in Dresden geblieben, das mitsamt den dreißigtausend Mann Garnison unter Marschall Gouvion Saint Cyr von Russen und
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