1816 - Der sanfte Henker
oder völlig daneben, aber nicht ausgeschlossen. Viele Menschen lebten in Fantasien, die sie sich nicht trauten, auszuleben. Bis sie an einen bestimmten Punkt gerieten, wo das möglich war oder man es ihnen ermöglichte.
Das war vielleicht auch hier so.
Es war etwas zu hören.
Wieder eine Stimme. Diesmal jedoch war es die Stimme einer Frau. Ich hörte nicht, was sie sagte, legte mein Ohr gegen das Holz, hörte die Stimme deutlicher, war aber nicht in der Lage, sie zu identifizieren. Ich kannte die Frau nicht, aber ich lauschte der Stimme so gut wie möglich nach und stufte sie als sanft ein.
Nun ja, ich konnte mich auch irren, aber der Mann gab dann ein Lachen ab und bewies, dass er sich in seiner Lage schon richtig wohl fühlte.
Ich schaute wieder durch das Schlüsselloch. Vor mir sah ich das andere Zimmer und auch die andere Welt, die sich mir gegenüber öffnete.
Da war das Bett.
Da war der Mann, und er war nicht mehr allein. Er lag auf dem Rücken, und mein Blick fiel auf eine nackte Frau, die über ihm kniete.
Auch sie hatte blonde Haare. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Mabel war vorhanden, und man brauchte sie mir nicht vorzustellen, ich wusste auch so, wer sie war.
Jamila Londry – diejenige welche.
Sie war ganz Herrin der Lage. Ihre Nacktheit war irgendwie provozierend. Sie kam mir vor, als wüsste sie genau, dass es jemanden gab, der ihr zuschaute.
Ihr Blick war auf die andere Seite der Tür gerichtet. Auch senkte sie den Blick, um dem Behaarten in die Augen zu schauen. Und dann gab es noch etwas, das auffällig war. In der rechten Hand hielt sie einen Gegenstand, der aus der Faust nach oben ragte. Es war beim ersten Hinschauen nicht genau zu erkennen, beim zweiten schon, denn es handelte sich um eine Feder, deren Kiel allerdings verdeckt war.
»Was – was – hast du da?«
»Eine Feder.«
»Und …?«
Sie lachte. »Du wirst erleben, welchen Spaß sie dir bereiten kann.«
Plötzlich hatte ich beide Stimmen gehört. Als hätten sie in ein Mikrofon gesprochen, das ihre Stimmen bis zu mir hin übertrug. Dann konzentrierte ich mich wieder auf das Geschehen, bei dem der Behaarte keine Frage mehr stellte. Dafür zeigte er mit einer Geste an, was er wollte. Er streckte der Frau beide Hände entgegen. Er wollte sie berühren. Streicheln oder auch küssen. Die Chance hatte er bisher nicht gehabt.
»Komm noch näher, verdammt. Ich will dich haben. Ich will dich berühren. Ich will deine Brüste – ahhh …«, er stöhnte auf, denn etwas war mit ihm passiert.
Er war gestreichelt worden.
Nicht von Fingern.
Jamila hatte ihre Feder eingesetzt und strich mit ihr über den nackten Körper des Mannes. Die weichen Teile glitten durch das Haar und wenig später über die Haut.
Ich hatte bisher alles gesehen. Das, was da im Nebenraum passierte, war zwar ungewöhnlich, aber nicht gefährlich. Man konnte es als ein Liebesspiel der besonderen Art einstufen, das musste ich mir nicht unbedingt anschauen. Außerdem tat mir der Rücken weh, denn ich hatte lange in einer unbequemen Haltung gestanden.
Was hatte ich gesehen?
Ein Liebesnest. Man konnte sich die Liebe kaufen, wurde auf eine spezielle Art und Weise bedient und konnte wieder gehen.
So war es doch – oder?
Nein, nicht ganz. Irgendetwas gefiel mir nicht an meiner Gedankenspielerei. Etwas passte nicht in das Ganze hinein. Es fehlte der Kick oder der brutale Schlag. Nicht, dass ich darauf scharf gewesen wäre, dieser Gedanke resultierte mehr aus der Summe meiner Erfahrungen.
Ich konzentrierte mich auf die Geräusche. Es war nicht viel zu hören. Hin und wieder ein leises Stöhnen, dann das bittende Flehen, doch endlich zur Sache zu kommen – und ich hörte den Schrei.
Er war nicht unbedingt laut, aber er drang mir durch und durch, weil ich ähnliche Schreie kannte. Sie waren der Ausdruck eines Schmerzes, der überraschend gekommen war.
Ich ging in die Knie und nahm erneut die unbequeme Position ein.
Wieder der Blick!
Der Mann hatte seine Haltung nicht verändern müssen. Nach wie vor lag er auf dem Rücken, aber jetzt hatte sich bei ihm schon etwas verändert. Aus seinem Körper ragte die Feder.
Zuerst dachte ich an einen Irrtum und wollte es nicht glauben. So etwas war doch verrückt, aber ich hatte mich nicht getäuscht. Die Nackte hielt ihre Feder nicht mehr in der Hand. Sie steckte jetzt im Körper des Mannes.
Ich blies die Luft aus.
Dann hörte ich das Stöhnen auf der anderen Seite der Tür und die Stimme.
»Dabei bin ich so sanft.
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