184 - Das Kreuz der blinden Göttin
Hände gerät«, antwortete Roxane.
»In Hände wie die unseren«, sagte ich.
»Genau«, bestätigte die weiße Hexe.
»Hat er das Leichentuch zerstört?« erkundigte sich der Ex-Dämon.
»Dazu war er nicht imstande. Er konnte es nur in Verwahrung nehmen, hat es versteckt«, berichtete Roxane.
»Wo?« wollte der Hüne mit den Silberhaaren wissen. Seine perlmuttfarbenen Augen funkelten.
Roxane hob langsam die Schultern. »Irgendwo auf dieser Welt«, sagte sie. »Mehr war vorläufig nicht herauszufinden.«
Reypees Leichentuch befand sich in den Händen eines Dämons, der auf unserer Welt - wahrscheinlich unerkannt -lebte. Ihn zu finden würde nicht leicht sein, aber wir würden es versuchen.
***
In der Hölle hatte Asmodis den Rat der Teufel einberufen. Loxagon, sein starker, wilder Sohn, saß neben ihm. Einst waren sie Todfeinde gewesen, weil Loxagon seine Grenzen nicht kannte. Er war so vermessen gewesen, nach dem Höllenthron zu greifen, doch das war ihm schlecht bekommen.
Asmodis hatte befohlen, ihn zu töten.
Loxagon hatte damals großes Glück gehabt. Seine heimtückischen Mörder hatten ihn für tot gehalten und begraben, aber er hatte den »Mord« überlebt und war zurückgekehrt - ohne aber den Fehler von einst zu wiederholen.
Er hatte sich mit seinem Vater arrangiert.
Sie hatten eine Basis der Koexistenz gefunden, teilten sich die Aufgaben. Ein weites Gebiet der Hölle unterstand Loxagon, und gab es einen Aufstand niederzuschlagen, schickte Asmodis seinen grausamen Sohn, der unbarmherzig durchgriff.
Jene, die Loxagon von früher kannten, wollten nicht an seine Wandlung glauben. Für sie stand fest, daß er nach wie vor nach dem Höllenthron schielte und die ganze Macht an sich reißen wollte.
Aber wenn es irgendwann dazu kommen sollte, würde er es klüger anstellen und nicht mehr so sehr auf seine enorme Kraft als vielmehr auf seine Klugheit setzen.
Er hatte Zeit. Er würde nichts übereilen. Doch irgendwann würde der Höllenfürst nicht mehr Asmodis, sondern Loxagon heißen. Ob Asmodis insgeheim damit rechnete, war nicht bekannt.
Man konnte jedoch davon ausgehen, daß er auf der Hut war. Die kleinste Regung hätte ihn alarmiert. Vater und Sohn belauerten einander ständig.
Die Einigkeit, die sie nach außen hin zeigten, gab es in Wirklichkeit nicht. Jeder stand für sich. Jeder hatte seine eigenen Interessen und verfolgte seine eigenen Ziele. Solange Loxagon nicht Asmodis’ Weg kreuzte, hatte dieser keine Veranlassung, etwas gegen ihn zu unternehmen.
Es schwelte unter der Oberfläche aus hergezeigtem Vertrauen und friedlicher Eintracht, doch niemand merkte es.
Sie saßen an einem langen, brennenden Tisch, auf brennenden Stühlen. Asmodis und Loxagon, der zur Rechten seines Vaters saß, hatten den Vorsitz.
»Numa hat sich erhoben«, sagte der Höllenfürst mit kräftiger, hallender Stimme. Sein Kinnbart zitterte, die glatten Hörner, die aus seiner Stirn ragten, glänzten im Widerschein des Feuers, das den Rat der Teufel einhüllte. »Ihr wißt, was das bedeutet. Sie will Wunder tun. In einem großen goldenen Kreuz erscheint sie den Menschen, um die Leiden von ihnen zu nehmen und sie glücklich zu machen. Als ob das Kreuz von den Menschen noch nicht genug angebetet würde!«
»Laß es mich zerstören und Numa vernichten, Vater!« verlangte Loxagon und schlug mit seiner großen Faust auf die brennende Tafel.
Doch Asmodis schüttelte entschieden den Kopf. »Das werde ich selbst tun. Du wirst während meiner Abwesenheit die Hölle in meinem Sinn regieren. Der Rat der Teufel wird dich dabei unterstützen.«
»Ich brauche keine Hilfe!« knurrte Loxagon, dessen Mutter eine Schakalin gewesen war. Er wußte, welche Aufgabe dem Rat der Teufel in Wirklichkeit zufiel: Man sollte ihm auf die Finger sehen, damit er sich während Asmodis’ Abwesenheit keine Vorteile sicherte, die dem Höllenfürsten eine Rückkehr auf den Thron erschwerten oder gar unmöglich machten.
»Du wirst dich vom Rat der Teufel unterstützen lassen!« sagte Asmodis energisch. »Ich will es so!«
Wut funkelte in Loxagons Augen, aber er widersprach seinem Vater nicht.
»Ich werde die prophezeiten Wunder verhindern!« kündigte Asmodis an. »Und nicht nur das, ich werde alles, was sich Numa vorgenommen hat, mit dem Blut einer von mir verdorbenen Frau umkehren.« Er grinste triumphierend. »Die Menschen werden nicht Glück und Erlösung von ihren Leiden finden, sondern das genaue Gegenteil.«
Der Rat der Teufel nickte
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