1850 - Vollmond-Grauen
seufzte. »Also die Wahrheit.«
»Klar. Machst du dir deswegen Gedanken?«
»Nein, eigentlich nicht. Das ist ja ein Fall, der in unser Metier fällt.« Harry goss noch mal nach. »Darauf gönnen wir uns einen Schluck.«
Es folgte auch noch ein dritter, dann war die Flasche leer, und beide lehnten sich zurück.
»Und?«, fragte Harry.
Dagmar lächelte. »Ich denke, dass ich jetzt die nötige Bettschwere habe. Und auch den nötigen Abstand zu dem, was wir erlebt haben. Einfach nicht zu fassen.«
Harry nickte. Er saß neben ihr und hatte einen Arm um sie gelegt. »Weißt du, worüber ich noch nachgedacht habe?«
»Nein, weiß ich nicht.«
»Darüber, ob wir wohl die einzigen Zeugen gewesen sind, die diese Gestalt vor dem Vollmond gesehen haben.«
»Oh, das kann ich dir nicht sagen.«
»Wenn nicht, werden wir das morgen in den Zeitungen lesen können. Was mich auch nicht groß stören würde, denn wir wissen es besser.«
»Okay.« Beide spürten die Müdigkeit. Es war Zeit, sich hinzulegen, was sie auch taten.
***
Harry Stahl schlief. Dagmar Hansen konnte nicht schlafen. Sie lag auf dem Rücken, ihre Augen waren geöffnet, und sie starrte die Decke an. Da sie ihre Ohren nicht verschlossen hatte, hörte sie auch leise Schnarchgeräusche ihres neben ihr liegenden Partners. Viele Menschen störte das Geräusch. Bei ihr war das nicht der Fall. Es machte ihr nichts aus, wenn der andere leise dahinsägte.
Nein, an Schlaf war nicht zu denken. Die Erlebnisse hatten sie innerlich zu sehr aufgewühlt. Sie wunderte sich sogar darüber, dass Harry so tief schlafen konnte, wo er doch fast das Gleiche erlebt hatte wie sie. Das war schon seltsam, und es kam ihr vor, als wäre Harry von der anderen Seite irgendwie beeinflusst worden.
Ich muss mich damit abfinden, dass etwas passiert ist, was mit mir in einem Zusammenhang steht. Oder noch stehen wird, denn ihr Leben verloren hatte Ellen. Sie war plötzlich wieder das Problem, um das sich die Gedanken der rothaarigen Frau drehten. Irgendwie hatte alles mit ihr angefangen, und sie konnte sich vorstellen, dass es auch mit ihr weiterging. Obwohl sie tot war. Aber niemand wurde grundlos getötet oder nur in den seltensten Fällen, und so musste es auch bei ihr ein Motiv geben, und das wollte Dagmar herausfinden.
Und sie dachte an das Geschöpf. Vor der Scheibe des Mondes hatte es sich aufgebaut, und es war Dagmar vorgekommen wie ein finsteres Versprechen, vor dem sie sich in Acht nehmen musste.
Die Zeit verging. Dagmar Hansen lag im Bett und schaute gegen die Decke. Das Zimmer war recht groß. So groß, dass es zwei Fenster hatte. Beide waren geschlossen, aber Dagmar hatte kein Rollo davor gezogen. Ein Fenster war sogar gekippt, damit frische Luft in das Zimmer drang.
Warum bin ich hellwach? Was ist der Grund? Passiert da möglicherweise noch etwas?
Das war die große Frage, auf die es keine Antwort gab.
Sie lag im Bett, sie dachte nach, aber sie bekam keinen Sinn in ihre Gedanken. Es war ein zu großes Durcheinander. Immer wieder entstanden vor ihrem geistigen Auge die verschiedensten Bilder, die sich dann zu Szenen zusammensetzten, in denen sie oftmals der Mittelpunkt war.
Nicht alle Szenen waren schlimm. Die meisten konnte sie sogar als harmlos abtun. Sie ärgerte sich nur darüber, dass es diese Sequenzen überhaupt gab.
Und dann gab es die Veränderung.
Urplötzlich und von einem Augenblick zum anderen. Sie wurde davon völlig überrascht, denn damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet.
Täuschung?
Sie wollte gern daran glauben, aber das war leider nicht der Fall. Das konnte sie nicht, denn die Realität übertrumpfte alles. Sie hörte das Geräusch, und es hatte eine Tonlage, die bei ihr eine Gänsehaut hinterließ.
Es heulte jemand!
Aber nicht in ihrer Wohnung, sondern draußen. Vor dem Haus oder im Garten dahinter. Oder an beiden Stellen zugleich.
Bisher hatte sie gelegen, jetzt aber setzte sie sich auf und schaute nach vorn in die Dunkelheit. Das heißt, so finster war es nicht. Sie sah genau, wo sich die Fenster befanden, denn sie hoben sich von dem dunklen Hintergrund gut ab.
Tief atmete sie ein. Sie wollte das Zittern unterdrücken und auch die Kälte, die in ihrem Innern steckte. Plötzlich wurde ihr schlagartig klar, wer da draußen heulte.
Das waren Hunde.
Und da kamen eigentlich nur die beiden Huskys infrage.
Harry Stahl schlief. Er hatte sich auf die Seite gelegt und bekam von dem Heulen nichts mit. Das würde auch weiterhin so sein, und
Weitere Kostenlose Bücher