1850 - Vollmond-Grauen
sie eine Bewegung machen konnte.
Dagmar sah sie zum ersten Mal aus der Nähe. Ihre Augen weiteten sich für einen Moment. Sie erkannte Beine und auch Arme. Sie sah Hände, die keine waren, sondern Krallen, und genau die griffen zu. Dagmar wollte ausweichen, doch das schaffte sie nicht mehr, weil die andere Seite erneut schneller war.
Die beiden Krallen erwischten die Frau und rissen sie in die Höhe. Sie stemmte sich zwar dagegen, aber es gelang ihr nicht, dem Grauen zu entgehen. Es war verrückt, aber es entsprach den Tatsachen. Die Krallen ließen sie nicht mehr los. Sie wurde in die Höhe gerissen, spürte den Wind in ihrem Gesicht und hörte auch das Schlagen der Schwingen.
Zugleich stellte sie fest, dass sie an Höhe gewannen, und als sie den Kopf etwas drehte, da sah sie, dass sie direkt auf den Vollmond zu flogen.
Das Grauen war rund. Es war gelb. Es war das Vollmond-Grauen, in das sie hineinglitten, und ihr wurde bewusst, dass sie und Harry Stahl verloren hatten …
***
Es war ein tiefer Schlaf gewesen, in den Harry Stahl gefallen war. So etwas wie eine Reaktion auf die Erschöpfung, und er wurde in der Nacht auch nicht wach. Der Schlaf zog sich bis zum Morgen hin, und als er erwachte, da war zunächst alles normal für ihn.
Er tastete dorthin, wo seine Partnerin liegen musste.
Da war nichts.
Ein leeres Bett, das war für ihn okay. Wahrscheinlich hatte er zu lange geschlafen. Da war Dagmar schon aufgestanden, um die Vorbereitungen für das Frühstück zu treffen.
Harry gähnte. Er streckte sich im Bett. Er wollte noch ein paar Minuten liegen bleiben und später unter die Dusche steigen.
Und danach wollte er sich um seinen Job kümmern …
Seine Gedanken stockten.
Etwas stimmte nicht.
Und damit meinte er nicht, dass Dagmar nicht mehr auf ihrer Bettseite lag, es ging um etwas anderes. Er hörte sie nicht. Und er nahm auch den Geruch nach frisch gekochtem Kaffee nicht wahr. Das war sonst immer der Fall gewesen.
Jetzt nicht!
So etwas wie Alarmsirenen schrillten in seinem Kopf. Er spürte einen Druck im Magen, das Blut stieg ihm in den Kopf, und dann gab es für ihn kein Halten mehr.
Er sprang aus dem Bett, und ein weiterer Sprung brachte ihn bis zur Schlafzimmertür, durch die er in den Flur eilte – und hinein in eine Stille.
Da war nichts zu hören.
Kein Geräusch drang aus der Küche, wie es eigentlich normal gewesen wäre.
Er hörte auch nichts aus dem Bad, es war totenstill in der Wohnung. Aber das blieb nicht so, denn er begann den Namen seiner Partnerin zu rufen.
Er rief ihn laut. Seine Stimme drang in alle Bereiche der Wohnung, und er schaute sogar auf dem Balkon nach.
Nichts zu sehen.
Dagmar war nicht da.
Sie hatte die Wohnung verlassen, und nichts wies darauf hin, dass sie es nicht freiwillig getan hatte. Das passte ihm nicht. Er spürte den heftigen Herzschlag, der in seinem Kopf einen Widerhall fand.
Sein Gesicht nahm einen gespannten Ausdruck an.
Er blieb vor dem Küchenfenster stehen, drehte sich um und sank auf einen Stuhl. Das durfte doch alles nicht wahr sein.
Er schüttelte den Kopf, dann presste er beide Hände gegen seine Schläfen. Harry wusste genau, dass Dagmar nicht verschwunden war, um nur ein paar Brötchen einzukaufen. Nein, dahinter steckte mehr.
Etwas hatte sich in der Nacht in die Wohnung geschlichen und Dagmar nach draußen gelockt. Und jetzt war sie weg. Er glaubte nicht, dass sie vor dem Haus auf ihn warten würde oder sich im Keller aufhielt. Eine schwache Hoffnung bestand dennoch, dass sie zum Einkaufen gegangen war, und deshalb wollte er noch etwas warten.
Langsam tropfte die Zeit dahin. Harry hatte sich ein Limit gesetzt, und auch das wurde erreicht.
Dagmar war noch nicht zurück. Es gab auch keine Nachricht, die sie hinterlassen hatte. Er schaute auf ihrem Schreibtisch nach und auch auf seinem.
Da war nichts.
Die Enttäuschung bohrte tief in ihm. Er schüttelte den Kopf, ging schwankend ins Bad, schaute sich im Spiegel an und sah, dass er blass geworden war.
Was sollte er tun?
Ruhig bleiben. Keine Panik aufkommen lassen. Nachdenken, nichts dem Zufall überlassen. Handeln, nicht durchdrehen. Es gab dieses entscheidende Erlebnis, das sehr wichtig war. Sie hatten dieses Monster gesehen, diesen kleinen Drachen oder was immer es auch gewesen sein mochte. Ihre Bekannte war durch die eigenen Hunde getötet worden, auch ein Unding, aber leider wahr.
Und jetzt musste er weiterdenken. Bestimmte Dinge mussten in Gang gesetzt werden, um Dagmar zu
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