186 - Wächter der Stille
Gefährten konnten sich nicht satt sehen. Da waren überlebensgroße Figuren, die eindeutig Fischmenschen darstellten. Türen und Torbögen, ganze Häuserfronten mit bizarren Erkern und Säulen – ja sogar Straßeneingänge ragten ein Stück aus den Felsen heraus. Alles wirkte so echt, allein schon wegen der Tiefseegräser, die sich in den Fensterecken und an Türschwellen angesiedelt hatten.
Und doch war alles nur Schein.
Wenn man nahe genug heran schwamm und das Licht auf einen beliebigen Eingang richtete, konnte man erkennen, dass die Felswand innerhalb der Tür- und Fensterrahmen geschwärzt war. Dadurch wurde eine Tiefe vorgegaukelt, die es gar nicht gab.
Quart’ol ließ die Hand sinken, wandte sich den Marsianern zu. Sie blickten ihm entgegen, als er zur Transportqualle zurückkehrte. Er bewegte sich so schwerfällig, als trüge er ein Zentnergewicht auf den Schultern. Man sah ihm an, welche Mühe er hatte, den Schock zu verarbeiten.
Die ganze Stadt war nur ein Relief!
***
Agat’ol nahm es mit Fassung, als die bionetischen Scheinwerfer tief unter ihm plötzlich erloschen und Quart’ols Transportqualle in der Dunkelheit verschwand. Sie würde ihm nicht entkommen, das stand außer Frage.
Der Mar’os-Krieger zog seinen Kampffisch herum. Er wollte sich die kuppelförmige Struktur genauer ansehen.
Es musste sich um eine Art Waffenstation handeln, das wurde dem Mar’osianer klar, als er sie vorsichtig umkreiste.
Algen und leuchtende Tiefseekorallen hatten die Wände bewachsen, ringsum konnte man Abschussvorrichtungen erkennen. Dunkel und schweigend wachten sie über Gilam’esh’gad.
An der Ostseite musste es einen schweren Treffer gegeben haben. Gehäuseplatten waren zerbrochen, ein paar Waffentürme ragten verbogen auf. In den Rohren wohnten Langusten.
Sie kamen eilig ins Freie getickelt, als Agat’ol vorbei ritt, und prüften mit nervösem Fühlerwackeln die veränderte Schwingung des Wassers.
Agat’ol kehrte auf die Westseite zurück. Dort glitt er vom Rücken des Soord’finns und schwamm zwischen die offenkundig bionetischen Elemente. Er betastete sie, konnte den einen oder anderen Zusammenhang mechanischer Apparaturen nachvollziehen. Doch wozu die Waffenkuppel als Ganzes diente, blieb ihm verborgen. Ihre Einzelteile sahen zu fremdartig aus, um eine konkrete Aufgabe von ihrem Erscheinungsbild abzuleiten. Der Mar’os-Anhänger ahnte nicht, dass er auf ein Relikt aus dem düstersten Kapitel seiner eigenen Vergangenheit blickte.
Die Waffenkuppel war ein Molekularbeschleuniger!
Pozai’don, Herrscher von Gilam’esh’gad und Nachfolger des Neunundzwanzigsten Großen Ramyd’sams, hatte ihn einst erbauen lassen, um die Mar’os-treuen Hydree zu bekämpfen.
Auszurotten, genauer gesagt. Mar’os hatte ein Treffen in Mar’ok’shimre einberufen, seiner Stadt. Es herrschte Krieg, und Tausende folgten dem Aufruf. Mar’os wusste nichts von der Existenz des Molekularbeschleunigers; Pozai’don hatte diese schreckliche Waffe im Geheimen entwickeln lassen. Ob es etwas geändert hätte, stand auf einem anderen Blatt. Fakt war jedenfalls, dass der wilde Krieger nicht für das Massensterben seiner Anhänger verantwortlich war.
Inzwischen wurde die Zerstörung von Mar’ok’shimre längst von den Nebeln der Vergangenheit überdeckt. Dort befand sich auch das Wissen um Pozai’dons Großangriffe, die nach dem Fall von Mar’ok’shimre das Städtenetz der Mar’os-Anhänger förmlich pulverisierten. Samt seiner Bewohner. Nur eine Handvoll Auserwählter wusste heute noch von den grausamen Taten der Gilam’esh’gad-Hydree. Agat’ol gehörte nicht dazu.
Er ließ sich von einer Waffenanlage faszinieren, die seine Vorväter in Moleküle zerfetzt hatte.
Nach dem Krieg gegen Mar’os wurde der Molekularbeschleuniger in den Schlafmodus geschaltet und die Kuppel auf dem Dach der Stadt um Gefechtsstationen erweitert. Sie reichten von Abschussrampen bionetischer Langstreckenraketen bis hinunter zu kleinen Kanonen, die ungebetene Gäste wie Zitterquallen und Riesenkraken verscheuchen sollten. Sogar Harpunen gab es, mit denen man Fangnetze für treibende Tiefsee-Ko’onen (essbare Meerespflanze) in Position schießen konnte. Die Netze machten noch immer Beute, doch es kam niemand mehr, um sie zu bergen.
Agat’ol musste einsehen, dass er mit der Waffenanlage – so beeindruckend sie auch war – nichts anfangen konnte. Sein Interesse erlosch, und er schwang sich wieder auf den Soord’finn. Er musste einen
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