188 - Der lebende Nebel
ein Sägewerk. Rulfan wuchtete ihn hoch und legte ihn in die Hängematte. Es war so anstrengend, dass er hellwach wurde.
Als er Victorius so jämmerlich da liegen sah, hielt er es für eine gute Idee, ihn von seinen Stiefeln zu befreien.
Er ließ den ersten Stiefel zu Boden plumpsen. Als er den zweiten in der Hand hielt, rutschte ein fingerdickes Fläschchen daraus hervor, das mit einer grünen Flüssigkeit gefüllt war, fiel zu Boden und rollte über die hölzernen Dielen.
Grindrim! Rulfan starrte es schockiert an.
Victorius erspähte das Fläschchen im gleichen Moment.
Seine Miene zeigte, dass er darin eine Möglichkeit – die einzige Möglichkeit! – sah, den auf ihm und seinem Geist lastenden Weltschmerz loszuwerden. Er musste nur einen Schluck aus dem Fläschchen trinken. Also wand er sich entschlossen aus der Hängematte.
Rulfan musste Nägel mit Köpfen machen: Wenn es Victorius gelang, seinen Jammer zu betäuben, fing morgen alles wieder von vorn an. Schaffte er es nicht, das Gift über Bord zu werfen, würde Victorius sich gleich nicht nur wieder sehr viel wohler fühlen, sondern vermutlich auch wieder in das Paradies und zu seiner geliebten Liwán zurückkehren wollen.
Wenn er sich erneut betäubte, würde er allen Gefahren Loaloas gegenüber blind sein und freudig in die Messer der Familie Saleh laufen. Das musste er unter allen Umständen verhindern!
Beide stürzten sie sich auf das Fläschchen – der eine in dem Bewusstsein, dass es seine trübe Stimmung und körperliche Pein im Nu beseitigen konnte, der andere in der Gewissheit, dass sie bei einer Umkehr geradewegs den mordlüsternen Banditen der Saleh-Sippe in die Arme laufen würden. Beide griffen nach dem Fläschchen und stöhnten auf, da sie nicht geahnt hatten, wie weh es tat, wenn zwei Dickschädel aufeinander krachen.
Vor Victorius’ Augen kreisten Spiralnebel. Das Fläschchen, das er sich am Tag zuvor für Notfälle in den Stiefel geschoben und dann vergessen hatte, entglitt seiner Hand. Es beschrieb einen Bogen und prallte gegen die eiserne Front des Ofens, in dem die Flammen schon nach frischem Holz lechzten. Da es aus Glas war, zerschellte es an der Ofentür und verspritzte seinen Inhalt über die Dielen.
Victorius sprang auf. Er war zornig. Außerdem setzten ihm Kopfschmerzen und Übelkeit zu. »Du bist tot!«, schrie der schwarze Prinz Rulfan an und schlug mit der Faust auf Tisch.
»Du weißt es nur noch nicht!«
Rulfan hätte über diese Plattitüde gern gelacht, aber er wollte es nicht auf die Spitze treiben. Er hatte Mitleid mit seinem Begleiter… das sich in Entsetzen wandelte, als Victorius nach der Arquebuse griff!
War er tatsächlich so versessen nach dem Grindrim, dass er einen Mord dafür begehen würde? Rulfan wartete nicht ab, sondern stürzte sich auf Victorius, als sich dieser gerade aufrichtete, und warf ihn gegen die Wand.
Es klirrte. Der Lauf der Arquebuse hatte eine Scheibe zerschlagen. Scherben regneten ins Meer hinab. Victorius ließ die Waffe totenbleich sinken. »Merde!« Er sah aus, als müsse er sich wieder übergeben.
Rulfan packte den Lauf und hielt ihn fest. Es erleichterte ihn, dass der Prinz keinen Widerstand leistete. Im Gegenteil: Er wirkte sehr verlegen, wankte zum Kartentisch und sank schwer schluckend auf den Klappstuhl.
Rulfan musterte ihn mit zusammengebissenen Zähnen.
Dann fiel ihm ein intensiver süßlicher Geruch auf. Er sah sich um; sein Blick blieb an der grünen Flüssigkeit hängen, die sich auf dem Gondelboden ausbreitete und in die Ritzen der Holzbohlen sickerte.
»Das haben wir nun davon«, murmelte Victorius. Er klang beleidigt, als sei Rulfan Schuld an seiner Depression und seinen Kopfschmerzen. »Beinahe wäre ich gewalttätig geworden! Wenn Papa das wüsste! Wie tief bin ich gesunken!«
Er verbarg das Gesicht in den Händen.
Rulfan holte einen Lappen, um die Pfütze aufzuwischen, doch der klebrige Saft war schon versickert.
War dies ein Grund zum Aufatmen? Er schaute verstohlen zu Victorius hinüber. Der hatte den Kopf auf die Seite gelegt und schien zu lauschen. Auch Chira spitzte die Ohren. Was war da los? Rulfan konzentrierte sich. Er glaubte ein feines Summen zu hören.
»Was ist das?«
Titana kam aus dem Netz geflattert und kreiste nervös durch die Gondel.
Rulfan schaute hinaus. Sein Blick fiel auf die Insel, die sie gerade überflogen: Feiner Nebel schlängelte sich wie ein silberner Arm zum Himmel hinauf.
Nebel? Am helllichten Tag? Doch wohl eher
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