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188 - Der lebende Nebel

188 - Der lebende Nebel

Titel: 188 - Der lebende Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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krallenbewehrte Bestie auf der anderen Seite der Gondel auf. Rulfan stürzte an das gegenüber liegende Fenster, öffnete es, legte an und schoss.
    Es krachte fürchterlich.
    Im selben Moment ließ der Vultuur sich absacken und entging der Ladung knapp. Er schien intelligent genug zu sein, um das Risiko abschätzen zu können, denn er gab mit einem frustrierten Krächzen auf und sank weiter in die Tiefe.
    Rulfan atmete erleichtert auf. Titana fiepte freudig und verschwand in ihrem über dem Kartentisch baumelnden Ruhenetz.
    Rulfan spürte die Müdigkeit, die sich in ihm breit machte.
    Er hätte sich gern hingelegt und geschlafen, doch solange Victorius in der Hängematte ruhte, konnte er sich keine Pause gönnen: Im Gegensatz zu seinem sorglosen Freund hätte er in dem Wissen, dass der Vultuur zurückkehren und seine Krallen in den Ballon graben konnte, kein Auge zugemacht.
    ***
    Das schreckliche Stöhnen, das Rulfan die Augen öffnen ließ, sagte ihm, dass er trotz allem eingenickt war. Und das im Stehen!
    Er hing halb über dem Ruder. Die Morgensonne schien ihm brutal ins Gesicht.
    Prinz Victorius hatte sich aus der Hängematte erhoben. Er saß auf dem Klappstuhl am Kartentisch, stützte den Kopf auf beide Hände und stöhnte so jämmerlich, als ruhe das Elend der ganzen Welt auf seinen Schultern.
    »Was ist los?« Rulfan hatte die Frage kaum gestellt, als er begriff, dass es nur der Jammer des Entzugs sein konnte.
    Vermutlich hatte Victorius die Augen aufgeschlagen, das öde Grau des Himmels erblickt, und war sofort von Depressionen heimgesucht worden.
    »Wie schrecklich«, hörte Rulfan ihn seufzen. »Was für eine miese und farblose Welt! Ich wusste nicht, wie abgenutzt die Wirklichkeit ist! Wie kann man denn in dieser faden Atmosphäre nur existieren?« Victorius stand auf, seine Beine zitterten. Er schaute aus dem Fenster und raufte sich die pinkfarbene Perücke. »Grau, wohin das Auge schaut!« Sein Blick fiel auf Rulfan. »Was ist passiert? Man kann den Himmel und das Meer ja kaum mehr voneinander unterscheiden!«
    Rulfan trat neben ihn und schaute hinab. Das strahlende Sonnenlicht ließ das satte Blau des Stillen Ozeans gerade erst richtig zu Tage treten. Unter ihnen waren knallgrüne Inseln zu sehen, wunderschöne Sprenkel auf der glatten See. Zwei gigantische weiße Fische, gut fünfzig Meter lang, durchbrachen den Wasserspiegel, sprangen in die Luft, klatschten auf das nasse Element und tauchten unter. Von einer Insel erhob sich ein schillernder Vogelschwarm und strebte der PARIS entgegen…
    »Die Farben sind völlig in Ordnung«, sagte Rulfan mit leicht gerunzelter Stirn. »Du leidest nur unter Entzugserscheinungen. Bei mir war es ganz ähnlich…«
    »Entzugserscheinungen?« Victorius hielt seinen Kopf, als hätte er Schmerzen. Er war wackelig auf den Beinen und stand mit geschlossenen Augen da, als versuche er, sich an etwas zu erinnern. »Liwán!«, stieß er dann hervor. »Meine geliebte Liwán!« Er stierte Rulfan an. »Wo bin ich?« Er wandte sich dem Fenster zu, als sähe er es zum ersten Mal. »Wo sind wir?«
    Sein Blick huschte hin und her. Sein gesunder brauner Teint erbleichte. »O nein!«
    Er klappte zusammen. Chira, die unter dem Kartentisch lag, jaulte erschreckt und sprang auf. Rulfan hechtete auf Victorius zu, fing ihn auf und setzte ihn wieder auf den Klappstuhl. Nun fragte er sich doch, ob es richtig gewesen war, ihn einfach mitzunehmen, ohne zuvor einen Heiler zu konsultieren: Es war kaum mit anzusehen, wie Victorius am ganzen Körper zitterte.
    Als er sich eine Hand vor den Mund hielt und grunzte, riss Rulfan ihn wieder hoch und schleifte ihn ans offene Fenster.
    Victorius spie röhrend seinen Mageninhalt aus, und Rulfan verwünschte alle Drogenhändler dieser Welt und ihre attraktiven Schwestern. Er fragte sich, ob hinter dem großzügigen Freitrunk Liwáns anfangs vielleicht auch der Plan gestanden hatte, die Fremdlinge anzufixen. Schon vor Jahrhunderten waren Dealer auf diese Tour geritten: Die erste Prise gibt’s umsonst, aber für den Rest deines Lebens musst du blechen!
    Natürlich brachte es nichts, wenn er Victorius jetzt mit bösen Worten über die Frau kam, in die er verliebt zu sein glaubte. Er hatte heftige Depressionen, da war er für eine Moralpredigt sicher nicht zu haben.
    »Folgendes«, sagte Victorius, als er wieder zu Atem kam.
    »Mein Kopf tut weh. Merde, alors! In meinem Bauch dreht sich alles! Mein Rücken schmerzt!« Seine Aussprache wurde nachlässiger, sein

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