Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
188 - Der lebende Nebel

188 - Der lebende Nebel

Titel: 188 - Der lebende Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
Vom Netzwerk:
den mentalen Aktionsradius des Prinzen erweitern konnte, der musste auch akzeptieren, dass es feindliche Vögel abwehren konnte.
    Victorius hatte auch andere Dinge behauptet, von denen Rulfan noch nicht wusste, wie ernst er sie meinte: dass er knapp zweihundert Brüder und Schwestern hatte; dass sein Vater mit vier Dutzend Frauen verheiratet und ein Freund der Naturwissenschaften war; dass der Kaiser über ein Reich herrschte, in dem das Fliegen alltäglich war; dass in Wolkenstadt, wo er residierte, eine Bibliothek mit Millionen von Landkarten und Folianten existierte, in denen alles über sämtliche Wissensgebiete stand.
    Victorius’ Vater schien auch ein Hellseher zu sein, denn er hatte Kunstgegenstände aufgestöbert, die seit Jahrhunderten verschollen waren. Vor zwanzig Jahren, Victorius war acht gewesen, war der Kaiser mit einer Roziere übers Meer gefahren und hatte die seit fünf Jahrhunderten verschüttete Bibliotheca Vaticana vor dem Verfaulen gerettet.
    Rulfan fragte sich, woher ein Mensch, der im finstersten Herzen Afrikas lebte, Kenntnis vom Archiv des Vatikans haben konnte. Die Zivilisationen, denen er im Laufe seines Lebens begegnet war, hatten jedenfalls keinen Kontakt zum Schwarzen Kontinent.
    Auch in Landán, der Hauptstadt des alten Imperiums, hatte man den Kontakt zu den einstigen Kolonien verloren. Die früheren nördlichen Kontinentalkulturen waren nur noch ein Schatten ihrer selbst: die Beneluxstaaten ganz, Dänemark halb abgesoffen, Frankreich und Deutschland mehr oder weniger verwildert und in feudale Zwergstaaten zerfallen, in denen sich analphabetische Adelige für die Vorhut einer neuen Zivilisationen hielten.
    Als weit gereister Mensch wusste er, wie es südlich der Alpen aussah. Ihm war auch bekannt, dass einige deutsche Herrscher ausgezeichnete Verbindungen ins Gebiet der alten Türkei hatten und oft Karawanen in diese Gegend schickten.
    Aber ihm war niemand bekannt, der je in offizieller Funktion Afra bereist hatte. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass das Bewusstsein der Menschen nur uralte Ammenmärchen über den Schwarzen Kontinent enthielt. Wer nichts über diesen riesigen Erdteil wusste, hatte immerhin dies gehört: Die Afrikaner zwangen Frauen, sich von Kopf bis Fuß zu verhüllen; Dieben hackten sie die Hände ab, und wenn sie gerade nichts Besseres hatten, fraßen sie Menschen. Zudem galt die afrikanische Tierwelt als wild und roh: Fressen und gefressen werden war auch die Devise der dort lebenden Kakerlaken, die angeblich zwanzig Meter lang wurden.
    Rulfan grinste. Obwohl der Mensch von Heute unter mittelalterlichen Umständen lebte, führten die Klischees überall dort, wo er hinkam, eine Art Leben nach dem Tode: In Britana wusste jeder Tropf, dass in Doyzland die Hunnen lebten und Hörner auf dem Kopf trugen. Und deren Nachfahren wussten wiederum, dass der Landáner absolut unbegabt war, andere Sprachen zu lernen.
    Ein verängstigtes Fiepen schreckte Rulfan aus seinen Gedanken. Als er den Blick von der bleigrauen See hob, die wie ein Brett unter ihm lag, flatterte etwas mit winzigen Schwingen an seiner Wange vorbei. Es war Titana. Und der über sein Gesicht fallende Schatten sagte ihm, dass der Vogel, vor dem die Zwergfledermaus geflohen war, beträchtlich größer war als sie.
    Sogar größer als er.
    Rulfan schluckte, als er den Vultuur sah, der mit klatschenden Schwingen die Höhe der Gondel hielt und ihn tückisch musterte. Die Spannweite seiner Flügel betrug mindestens vier Meter. Seine Krallen sahen aus wie Dolche; sein gelber Schnabel war so lang wie Rulfans Unterarm.
    Normalerweise sahen Vögel dieser Art in lebendigen Wesen kein Futter, da sie Aasfresser waren. Es sei denn, sie hatten lange nichts gefressen. Und dieses Exemplar schien hungrig zu sein.
    Rulfan tastete nach einer von Victorius’ Waffen, ohne den Vogel aus den Augen zu lassen. Die Waffe hieß Arquebuse und war am ehesten mit einem Gewehr zu vergleichen. Man lud sie mit Pulver und Blei, und wenn man sie abfeuerte, schoss sie hübsche Löcher in den Wanst jedes Angreifers.
    Chira stellte sich auf die Hinterbeine, kratzte mit den Tatzen an der Scheibe und knurrte. Titana kreiste aufgeregt unter der Gondeldecke.
    Rulfan legte an. Der Vultuur riss den Schnabel auf und krähte, als wüsste er, was eine Arquebuse bewirken konnte.
    Dann ging er in einen Sturzflug über, der ihn im Nu unter der Gondel verschwinden ließ.
    Rulfan ahnte die Taktik, fuhr herum – und richtig: Schon tauchte die

Weitere Kostenlose Bücher