188 - Der lebende Nebel
Inselmitte entsprang und sich den Weg zum Meer bahnte. Mit dem besinnungslosen Victorius auf der Schulter und der winzigen Fledermaus in der Westentasche nahm Rulfan den Weg zum Bachufer in Angriff, wo er die Schwellungen seines Freundes ausgiebig kühlte. Als tierlieber Mensch hätte er auch Titana gern verarztet, doch mit seinen veterinärmedizinischen Kenntnissen war es nicht weit her.
Auch wenn Lupas nicht zu den Tieren gehörten, um deren Wohlergehen man sich gemeinhin Gedanken machen musste: Rulfan sorgte sich um Chira.
Als er sich davon überzeugt hatte, dass Victorius regelmäßig atmete und sein Puls nicht beschleunigt war, machte er sich auf, die Umgebung zu erkunden. Zunächst folgte er dem Bach, um zu sehen, wie weit sie vom Meer entfernt waren. Das Gewässer führte durch einen dichten Dschungel, in dem Leguane und mausartige Tierchen die Flucht ergriffen, als seine Stiefel den Boden vibrieren ließen. Bunte Papageien kreischten, wenn sie ihn sahen, und schwangen sich in die Lüfte. Rulfan hielt mit gezückter Klinge nach Schlangen Ausschau, sah aber keine.
Dann stieß er auf einen ausgetretenen Pfad. Er kam aus dem Busch und verlief neben dem Bach her. Rulfan entdeckte Fußabdrücke. Die Insel schien bewohnt zu sein oder regelmäßig Besuch zu erhalten.
Sollte er diese Erkenntnis als positiv oder negativ einstufen?
Dass die Abdrücke von Stiefeln statt von nackten Füßen stammten, konnte bedeuten, dass es sich um zivilisierte Einwohner handelte. Oder um Kannibalen, die die Stiefel ihrer Opfer als Trophäen trugen…
Rulfan grunzte. Manchmal machte einen auch Nachdenken nicht schlauer. Er folgte dem Pfad am Bach entlang. Dort, wo er aus dem Dschungel kam, konnte er sich auch später noch umsehen.
Einige Minuten später erreichte er den Ort, an dem die Abdrücke endeten: Der Bach mündete in eine kleine Bucht, die an allen Seiten vom Dschungel umwuchert war. Sie war fast rund. Die Wipfel der sie umgebenden Bäume standen so dicht zusammen, dass man diesen Ort vermutlich nicht mal aus der Luft sah.
Irgendwo im grünen Ufergestrüpp musste eine Ausfahrt sein. Vor Rulfan lag eine einsame Dschunke vertäut. Er ging in die Hocke und schaute sie sich an.
Das Boot war etwa zehn Meter lang und hatte so gut wie keinen Tiefgang. Das Schutzdach war vorn und hinten offen.
Rulfan sah das Ruder, einen Kompass, Kisten und kleine Fässer. An Deck lagen auch einige Masten herum, die man bei Bedarf aufrichten und mit Segeln bestücken konnte.
Dass sie an Deck lagen, konnte technische Gründe haben.
Es konnte aber auch sein, dass der Schiffer nicht wollte, dass man die Dschunke vom Meer aus sah. Vielleicht gab es in diesen Gewässern Seeräuber… oder Hüter des Gesetzes; es war nicht auszuschließen, dass die Mannschaft der Dschunke selbst Grund hatte, das Licht zu scheuen…
Rulfan schaute sich gründlich um. Dann huschte er längsseits der Dschunke und schwang sich an Bord. Es war niemand an Deck. Er schlich an Kisten vorbei, die voller leerer Flaschen und Zehn-Liter-Fässchen waren.
Rulfan zog eine Flasche aus einer Kiste, in der noch ein Rest grüner Flüssigkeit dümpelte. Er entkorkte sie und roch daran.
Der Geruch kam ihm sehr bekannt vor. Sie hatte Grindrim enthalten, keine Frage.
Rulfan murmelte eine Verwünschung. Es sah so aus, als wären Victorius und er vom Regen in die Traufe gekommen: Wenn sie an dem geheimen Ort gelandet waren, wo die Familie Saleh den abhängig machenden Likör brannte, waren sie in den Hintern gekniffen.
Irgendwo im Busch knackte ein Ast.
Rulfan war mit einem Satz über Bord und versteckte sich der Dschunke gegenüber hinter dichten Gebüschen. Dabei fiel sein Blick auf ihren Bug, der mit der Zeichnung einer fauchenden, gehörnten Raubkatze versehen war.
Nun gab es keinen Zweifel mehr. Rulfan biss die Zähne zusammen. Wie heißt es doch so schön? Ein Unglück kommt selten allein.
***
Eins wusste Sampang genau: Heute war ein besonderer Tag!
In der Morgendämmerung hatte er das unheimliche weiße Wesen und die monströsen Götterboten im Meer gesichtet.
Kaum sechs Stunden später war ein Streitwagen der Götter über den Dschungel von Adelee hinweg geflogen.
Sampang eilte geduckt und mit dem Säbel in der Hand durch den Urwald. Seine Wangen glühten. Das Herz pochte aufgeregt in seiner schmalen Brust. Die Bucht, in der die Transportdschunke vertäut lag, konnte nicht mehr weit sein.
Wenn sein Blick ihn nicht getrogen hatte, musste der Götterwagen ganz in ihrer
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