188 - Der lebende Nebel
Rauch.
Nein, Rauch war es auch nicht, dafür schillerte es zu sehr.
Der höchste Punkt des Gebildes lag außerhalb seines Blickfeldes – vermutlich unterhalb der Roziere. Je länger Rulfan hinschaute, desto klarer wurde ihm, dass sie es nicht mit einem Naturphänomen zu tun hatten: Der Nebel verhielt sich, als würde er gesteuert, als sei sein Interesse an ihnen nicht zufällig.
Dies wiederum konnte nur eins bedeuten…
Was immer das war – es lebtel! Und sie lockten es an!
Der Gedanke war Rulfan kaum gekommen, als das Summen zu einem Tosen wurde und der Himmel vor der Gondel sich rasend schnell verfinsterte.
Chira knurrte. Titana stieß schrille Laute aus und landete auf dem Schopf ihres Herrn, der erschreckt die Arme hob, sodass die Fledermaus ihren aufgeregten Flug durch die Gondel wieder aufnahm.
»Was um alles in der Welt…?« Victorius stand langsam auf.
Er war blass und zitterte, doch er schien vergessen zu haben, was ihn peinigte. Schon stand er neben Rulfan am Fenster und musterte das schillernde Gebilde, das sie wie ein aus Milliarden mikroskopisch kleiner Lebewesen bestehender Schwarm umhüllte.
Der brausende Nebel bildete einen Ausläufer, der sich dem zerbrochenen Fenster näherte. Rulfan und Victorius schauten sich an. Sie sahen nun, dass hier etwas auf sie zukam, mit dem sie nicht fertig werden würden. War es ein Naturphänomen oder der Angriff einer unbekannten Macht? Dass der Nebel sich für das Innere der Gondel interessierte, war unübersehbar.
Gierig summend strömte der schillernde Arm in die Gondel hinein und warf sich auf die Flüssigkeitsrückstände aus dem zerbrochenen Grindrim-Fläschchen. Chira wertete den Ansturm offenbar als Angriff, denn sie versuchte sich in den nebulösen Eindringling zu verbeißen. Dies bekam ihr jedoch nicht gut: Als Rulfan ihr Heulen hörte, begriff er, dass der Nebel kein Nebel war, sondern ein fast transparenter Mückenschwarm: Die Biester stürzten sich auf das Tier, das jaulend wieder unter den Kartentisch floh. Dort war es natürlich auch nicht sicher. Immer mehr Insekten strömten ins Innere der Gondel. Es wurde schwierig, die Hand vor den Augen zu sehen.
Angesichts des millionenfachen bedrohlichen Gewimmels konnte Rulfan kaum einen klaren Gedanken fassen.
Chira war schlimmer dran: Die Insekten schienen sie als Feind eingestuft zu haben, denn um ihren Kopf ballte sich eine dichte Wolke der winzigen Viecher zusammen.
Chira tat, was ihr als Einziges übrig blieb: Sie sprang mit Todesverachtung durch das Fenster, durch das die Insekten in die Gondel strömten. Rulfan schrie auf und stürzte an ein anderes Fenster. Er sah Chira der blauen See entgegen stürzen.
Gleichzeitig erkannte er, wie nahe ihnen die Wasseroberfläche gekommen war. Offensichtlich befand sich die Roziere im Sinkflug!
In der Gondel herrschte summendes Chaos. Rulfan hielt nach Victorius Ausschau, sah ihn aber nicht. Wo steckte er? Er war doch nicht ebenfalls über Bord gesprungen?
Obwohl die Mücken ihn nicht stachen, hatte er allmählich das Gefühl, in dem lebenden Nebel zu ersticken. Er schob den Kopf aus dem Fenster, atmete tief ein und schaute nach oben.
Er traute Victorius durchaus zu, dass er an den Seilen hing, mit denen die Gondel am Ballon befestigt war. Doch auch dort war der Prinz nicht zu erspähen. Stattdessen sah er, dass der zuvor rotblaue Ballon jetzt silbern schillerte: Die myriadenköpfige Mückenarmee hatte sich in dichten Trauben auf ihm niedergelassen.
Ein Blick nach unten: Wie hoch waren sie noch? Zwanzig Meter? Sie rasten auf ein dicht bewaldetes Eiland zu. Was war mit Chira? Würde sie erkennen, auf welcher Insel ihr Herr mit dem Ballon niederging, und konnte sie die Entfernung schwimmend zurücklegen?
»Victorius!«, schrie Rulfan und drehte sich um. »Wo steckst du, verdammt?« Er versuchte das Sichtfeld mit den Händen frei zu schlagen und provozierte damit die Mücken: Sie stachen jetzt zu. Rulfan fluchte. Er durfte nicht in Panik verfallen.
Wenn er wild wurde, wurden die Biester es auch.
Er spielte mit dem Gedanken, über Bord zu springen, doch dann sah er Titana und Victorius: Es hatte sie unter den Kartentisch verschlagen. Die Fledermaus krallte sich an ihren Herrn, und Victorius kämpfte ebenso heroisch wie sinnlos gegen die ihn wütend attackierenden Mücken. Seine Wangen waren zerstochen; wenn er so weiter machte, würde er irgendwann einem Streuselkuchen ähneln.
Von unten schlug etwas gegen Rulfans Füße. Es krachte laut. Die
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