189 - Die Regenbogenschlange
der alte Mann sprach, klang seine Stimme gepresst und feindlich.
»Du gehörst nicht hierher«, zischte er Chris verachtend an.
Sein ganzes Auftreten hatte etwas Krankhaftes. Er schwankte leicht, während er sprach. Chris roch eine Ekel erregende Ausdünstung nach Schnaps und Urin. »Aborigines gehören nicht zu uns. Sie sind der Abfall der Schöpfung.«
»Gehen Sie bitte«, meinte Chris höflich. »Sie sind hier nicht erwünscht.« Er versuchte die Wut in sich mit Selbstbeherrschung in Schach zu halten.
»Du bist hier nicht erwünscht!«, herrschte der Mann ihn an.
»Du solltest gar nicht hier sein!« Er packte Joeys halbvolle Kaffeetasse und wollte Chris den Inhalt ins Gesicht schütten.
Chris reagierte augenblicklich. Er stieß die Hand mit der Tasse von sich, und der Kaffee ergoss sich über den Tisch und die Brust des Alten. Hässliche braune Flecken verunstalteten das verknitterte Hemd. Wie getrocknetes Blut, dachte Chris schaudernd. Das Mal an seiner Schläfe brannte. Er sah wieder das Anangu-Mädchen vor sich, wie sie ihn mit flehenden schwarzen Augen ansah. Die Welt verschwand vor ihm. Er hörte seine Stimme wie aus weiter Ferne, aber er verstand nicht, was er sagte.
»Diese Welt wird in Asche untergehen und das, was von diesem Kontinent noch übrig bleibt, wird uns gehören. Die Regenbogenschlange wird uns zu sich rufen und euch vernichten!«
Als er wieder klar sehen konnte, war der Mann nicht mehr da. Chris stand vor dem Tisch und starrte in die Ferne. Erst allmählich nahm er den Rest des Cafés wahr und die vielen Menschen, die ihn mit offener Verwunderung anstarrten.
Träumte er wieder? Nein, er war wach.
Joey zog an seinem Ärmel. »Komm mit, du Blödmann«, flüsterte sie ihm zu. Sie verließen das Café fluchtartig. Chris versuchte sich halbherzig gegen die kleinere Joey zu wehren, die ihn unnachgiebig zwischen den Tischen entlang zum Ausgang zog. Sie gingen die Straße hinunter, bis sie die Harbour Bridge vor sich sehen konnten. Die längste Bogenbrücke der Welt lag vertraut vor ihnen, und zugleich völlig fremd. Chris wollte fort aus dieser Stadt, fort von den Menschen. Er wunderte sich, warum Joey so verbissen einen Fuß vor den anderen setzte. Sie schien auf ihn wütend zu sein.
»Wir haben nicht bezahlt«, protestierte Chris schwach.
»Du verfluchter Idiot! Musstest du ihn gleich auf den Rücken legen? Es kann nicht jeder so gut fallen wie du, Chris! Gut, er hat sich vollkommen daneben benommen, aber er ist ein alter Mann! Wer weiß, was du ihm alles ausgerenkt hast! Du hättest nicht so hart zu ihm sein müssen. Und wie du ihn davor gewürgt hast…« Sie schüttelte sich. »Als du ihn angezischt hast, wurde mir ganz anders. Und als du ihn dann packtest… Ich dachte du erwürgst ihn, so wie… eine Schlange.« Sie sah unbehaglich auf Chris’ rechten Arm. »Du kannst froh sein, dass er gleich davon humpelte! Er hätte dich anzeigen können!«
Chris wurde es kalt. Er konnte sich nicht daran erinnern, den fremden Mann berührt zu haben. Weder, dass er ihn gewürgt, noch, dass er ihn auf den Boden geworfen hatte. Er wusste auch nicht mehr, was genau er zu ihm gesagt hatte. Chris blieb stehen und rieb über das Mal an seiner Schläfe, das plötzlich unerträglich juckte.
Joey ging weiter, Richtung S-Bahn Station. »Weißt du, was du brauchst, Chris? Eine Therapie, das brauchst du! Deine Eltern haben die Kohle, also kein Problem in dieser Hinsicht! Such dir jemanden, der dir hilft, und das besser heute als morgen!«
»Joey…«
Sie blieb stehen und sah ihn an. In ihren Augen lag der Schmerz einer verlorenen Liebe. Er hätte sie gerne in den Arm genommen und sie getröstet, aber alles in ihm war seltsam kalt.
»Joey, ich habe wohl… überreagiert.« Was sollte er ihr sagen? Die Wahrheit? Sie musste ihn für übergeschnappt halten. »Der Mann hat mich zum falschen Zeitpunkt beleidigt. Ich… wollte dich nicht verletzen.«
Ihre grünen Augen schimmerten feucht. »Wir tun oft Dinge, die wir nicht wollen. Weil wir sie nicht ändern können. Ich werde über dich hinwegkommen.«
»Es tut mir Leid.«
Sie sahen einander an. Der Abstand von wenigen Metern erschien Chris wie ein unüberwindlicher Abgrund. Joey senkte den Blick zuerst.
»Ich wünsche dir Glück, Chris. Vielleicht findest du deine Zukunft ja in Asien.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und ließ ihn hinter sich.
Er sah ihr unglücklich nach.
Ich brauche niemanden, der mir hilft, dachte er störrisch.
Ich brauche auch
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