19 - Am Jenseits
nennt und an welchem Ort, zu welcher Zeit und vor welchen Zeugen ihr euch zu diesem Bund vereinigt habt.“
„Er soll nur wagen, zu kommen! Er muß glauben, daß – – –“
„Sprich nicht vom Glauben bei ihm!“ unterbrach ihn der Münedschi. „Das Überzeugtsein nach solchen Beweisen ist nicht Glaube zu nennen und hat vor dir keinen Wert. Deine Hanneh war das Beispiel, welches ich euch zeigen wollte. Du bist der Glaube; der Kadi ist die Wissenschaft. Der Gläubige ist in inniger Liebe mit Gott verbunden; er kennt ihn; er lebt in ihm; er wirkt durch ihn und mit ihm. Die Wissenschaft verlangt von Gott einen ausführlichen Urkundenbeweis; sie sieht ihn nicht; sie hört ihn nicht, sie fühlt ihn nicht, weil sie über das Irdische nicht hinüber kann, und dringt über die Mauer ja einmal ein Hauch des Himmels herein, dessen Ursprung der Gelehrte nicht zu erkennen vermag, so spricht er in seiner Verlegenheit von einer Wissenschaft des Verborgenen. Aber was ihm verborgen ist, das ist dem Gläubigen offenbar, denn mag die Wissenschaft behaupten, sie allein könne sehen, es gibt noch ganz andere Augen als die ihrigen, klare, helle, scharfe Augen, die nie und nimmer altern, die ohne Brille im kleinen Sonnenstäubchen und ohne Fernrohr in den unmeßbaren Welten das beglückende Wort der Offenbarung Gottes lesen. Wieviel solche Augen aber gibt es unter den Millionen Menschen, welche auf Erden wandeln? Es sind seit dem Dasein eures Geschlechtes tausend Generationen gekommen und wieder gegangen; der Glaube war für sie das Wort, welches er noch heut bei euch ist. Verschwindend nur ist die Zahl derer, für die er das ist, was er sein soll. Er wurde nicht geübt. Das Organ aber, welches man nicht übt, wird schwächer und immer schwächer; in dieser Schwachheit vererbt und dann noch weniger beachtet, verschwindet es mehr und mehr, und endlich kommt ein Geschlecht, dem es gänzlich mangelt und fehlt. Die Wissenschaft, die Erkenntnis des Irdischen, wurde bevorzugt seit uralten Zeiten. Darum entwickelte sie sich mehr und mehr. Unzählig sind die, welche ihr dienten, welche sie nährten und pflegten in unausgesetzter Arbeit bei Tag und bei Nacht. So wuchs sie empor zur Riesin, welche hinaufgreift sogar nach den Sternen. Nun wird sie, die trotz dieser Größe von Mauern Umgebene, von ihren Jüngern noch höher gehalten als Gott! Die Erkenntnis des Himmlischen fand nicht dieselbe Pflege, denn zu üben, was sie verlangte, das hielt man für zu schwer. Ja, Kinder Gottes gab es in Scharen; aber die sich so nannten, die waren es nicht. Zuweilen wohl tauchte, hier oder dort, der lebendige Glaube auf; dann ging auch sogleich eine Kraft von ihm aus, welche Ströme von Segen spendete. Doch kaum war er mächtig geworden, so machte man ihn wieder zum Worte, zum Wahlspruch für irdische Zwecke, zur blutigen Fahnendevise, die man von Schlacht zu Schlacht schleppte, bis er zusammenbrach. Der Wissenschaft gönnte man Frieden, obwohl sie dem Menschen die Werkzeuge des Kampfes verfertigte; den Glauben aber, den friedlichen Sohn des Himmels, der die Liebe, die Versöhnung predigte, verwandelte man in das Zerrbild seiner selbst, kleidete ihn in das Gewand des Hasses und nahm ihn zum Vorwand des Kampfes bis auf den heutigen Tag. So hat man aus dem Worte ‚Glaube‘, allerdings nicht aus ihm selbst, das Gegenteil gemacht von dem, was er ist und für die Menschheit sein soll, und schüttelt höhnisch lächelnd den Kopf, wenn jemand sich unterfängt, zu behaupten, er führe zur höchsten Erkenntnis und sei der einzige Weg zur Wahrheit. Aber der Allweise gab ewige Gesetze, die stetig bestehen und wirken, die nimmer aufhören, auch eure verehrten Kräfte und Stoffe zu lenken und zu beherrschen, und diese Gesetze verbürgen dem Glauben den einstigen Sieg. Nehmt euch nur seiner an, wie ihr euch der Wissenschaft angenommen habt! Widmet ihm denselben Fleiß, dieselbe Arbeit und Tatkraft, die von jeher auf sie verwendet wurden, und ihr werdet sehr bald erkennen, daß er stärker und mächtiger ist als sie. Denn die Wissenschaft ist das Ergebnis nur menschlichen Strebens, der Glaube aber ist göttlichen Geschlechtes; sie belehrt euch über das Wesen und die Wechselwirkungen der Stoffe; er aber läßt euch Gott schauen und führt euch zur Gemeinschaft mit ihm. Denkt ja nicht, sie beherrsche mehr Gebiete als er! Im unendlichen Reich des Glaubens gibt es mehr Provinzen als in ihrem vergänglichen Bezirk; nur liegen die ihrigen dem irdischen Sinn näher als
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