19 - Am Jenseits
eines hirn- und nervenleidenden Mohammedaners? Ich war im höchsten Grade gespannt, und Halef und der Perser waren dies nicht weniger als ich, denn ihnen als Orientalen war für solche Situationen wohl mehr Empfänglichkeit gegeben als mir, dem weniger glühend fühlenden und kälter denkenden Europäer.
„So komm! Ich führe dich!“ hörten wir jetzt den Münedschi mit der bisherigen, fremdartigen Stimme sagen und mit seiner eigenen, ganz anders klingenden, antwortete er hierauf: „Ich folge dir, Ben Nur, der du ein Engel Allahs und der Lehrer meiner Seele bist!“
Es sei mir, um das nun Folgende leichter verständlich zu machen, erlaubt, diesen von mir nur in der Einbildung existierend gehaltenen Ben Nur von dem Münedschi zu unterscheiden. Zwar war es natürlich nur der Blinde, welcher sprach, aber das, was wir hörten, war ein Gespräch zwischen zwei Personen, deren Stimmen so verschieden klangen, daß wir bei geschlossenen Augen auf die Anwesenheit zweier Menschen außer uns geschworen hätten, wenn die Gewißheit nicht dagewesen wäre, daß es nur allein der Münedschi sei.
Es verging eine Zeit, während welcher wir, um das sich vor uns Entwickelnde ja durch keinen Hauch zu stören, nur leise zu atmen wagten. Einmal hörten wir den Blinden mit seiner eigenen, ängstlich klingenden Stimme „Halte mich, oh, halte mich!“ sagen; dann war es wieder still. Er stand, wie von Anfang an, hoch aufgerichtet da, die eine Hand nach der Seite erhoben, als ob er an ihr geleitet werde. Da ließ er sie sinken, als ob niemand mehr sie halte, strich sich mit der andern über das Gesicht und bewegte den Kopf, wie jemand, der staunend um sich blickt.
„Wir sind angekommen. Nun bleib an meiner Seite stehen, und sag, was du erblickst! Fürchte dich vor nichts, denn ich bin bei dir, und niemand darf sich uns nahen!“
Das sagte der Blinde mit Ben Nurs Stimme, worauf er mit seiner eigenen erwiderte:
„Ich fürchte mich nicht, denn du hast mir schon oft Furchtbares gezeigt, ohne daß es mir schadete. Ich weiß also, daß ich bei dir sicher bin.“
Er schaute wieder mit zwar geschlossenen Augen aber sehr lebhaften Kopfbewegungen um sich und sagte dann:
„Welch ein Wunder! Wohin hast du mich geführt! Ich sehe Gegenstände und Menschen, die doch keine Gegenstände und Menschen sind. Es ist alles so gestaltet, und es bewegt sich alles so, wie auf der Erde, und doch bin ich der vollen Überzeugung, daß nichts hier irdisch ist!“
„Sag nur, was du siehst, dann werde ich es dir erklären!“ gebot die andere Stimme, also der sogenannte Ben Nur.
Hierauf erhob der Münedschi die Arme, um alles, was wir nun hörten, mit verdeutlichenden Bewegungen derselben zu begleiten, und fuhr fort:
„Ich stehe auf einem hohen, breiten Stein, ganz allein mit dir“, sagte er. „Hinter uns dehnt sich eine Mauer, deren Höhe und deren Enden ich nicht erkennen kann. Sie hat viele, viele enge, niedrige Öffnungen, durch welche immerfort Menschen erscheinen und auf uns zukommen, um sich vor uns zu einem breiten Heereszuge zu vereinen.“
„Das ist El Widah, die Mauer, an deren andern Seite das Erdenleben endet, indem es zu einer dieser Türen führt, vor denen kein Sterblicher stehenbleiben oder gar umkehren kann, außer Gott erlaubt es ihm. Sprich weiter!“
„Es liegt ein weites, ebenes, ödes Land vor mir“, folgte der Blinde dieser Aufforderung, „von einem tief und schwarz gähnenden Abgrund begrenzt, über den eine Brücke hinüberführt, deren Breite kaum die Schärfe eines Rasiermessers beträgt.“
„Das ist Es Ssiret, die Brücke des Todes“, erklärte Ben Nur. „Sie geht über El Halahk, den Abgrund des Unterganges, des Verderbens. Erkennst du, wo sie endet?“
„Ja, ich sehe es, doch nicht so deutlich, wie ich möchte. Es ist ein Tor, welches ich wohl bestimmter sehen würde, wenn nicht darüber die Flammeninschrift leuchtete ‚Zur Seligkeit!‘ Auch die Fortsetzungen seiner Seiten, welche sich aus dem Abgrunde erheben, sind mir dunkel; darüber aber leuchtet eine Klarheit, welche von keinem irdischen und von keinem Sonnenlichte stammen kann. Indem ich sie erblicke, steigt eine unbeschreibliche Wonne und Sehnsucht in mir auf, die mich emporheben und hinübertragen will; aber mein Fuß klebt fest an diesem Steine; ich kann nicht fort; ich bin zu schwer!“
„Du bist so schwer, weil du noch zur Erde gehörst, auf der das Gesetz der Schwere gilt, welches ich für dich für diese kurze Stunde überwand. Ich sage
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