19 - Am Jenseits
Stunde, denn hier, wo wir uns befinden, gibt es noch Zeit. Die Ewigkeit beginnt dort an der Brücke. Du stehst hier am Jenseits, nicht in demselben; das ist der äußerste Punkt, wohin ich deine unsterbliche Seele führen durfte, weil sie noch das irdische Gewand zu tragen hat. Du siehst dich hier also zwischen Zeit und Ewigkeit, nicht vor dem Tod und nicht nach dem Tod, sondern mitten in demselben, und alles, was du hier erblickst, geschieht mit der Seele während der Zeit des Sterbens. Was siehst du noch?“
„Ich sehe die Scharen der Seelen, welche durch die stille, unheimlich lautlose Öde des Todes nach der Brücke wallen. Allah, Allah, beschütze und bewahre mich!“
Diesen letzten Satz schrie er laut auf, als ob eine plötzliche, große Gefahr über ihn hereingebrochen sei. Dabei breitete er, wie nach einem Halte suchend, ängstlich beide Arme aus. Hierauf ließ er sie beruhigt wieder sinken und antwortete dann sich selbst mit der Stimme Ben Nurs:
„Sei getrost; ich halte dich! Du nanntest die Zeit des Sterbens, in welcher du dich befindest, still und lautlos. Jetzt erfährst du, daß es auch ein anderes als still ergebenes Scheiden gibt. Sprich!“
„Es erhob sich ein Sturm, in welchem mein Felsen zitterte; finstere Wolkenschwaden wurden über mich hingepeitscht; Donner rollte; Blitze zuckten. Ich hörte Schlachtengeschrei und das Krachen der Schüsse. Nun ist alles vorbei, jetzt sind die grauenvollen Schatten gewichen – doch noch breiten sich düstere Schemen in meiner Seele aus. Ich sehe zwar nichts mehr; aber ich höre die Stimmen der Sterbenden. Mütter jammern um ihre Kinder; Frauen winseln nach ihren Männern; Geizige schreien nach den Reichtümern, die sie verlassen müssen, Herrscher nach ihren Thronen, Ehrsüchtige nach ihrem Ruhm. Es ist ein Brüllen, Zetern, Klagen und Weinen um mich her, welches mich selbst zum Sterben bringen wird, wenn ich es noch länger hören muß! – ‚Allah sei Dank! Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!‘ rief die Stimme eines gläubig sich Ergebenden, und sofort ward alles still. Die Nebel weichen, und ich sehe die Scharen wieder ohne Laut und ruhig wallen. Auf der Mitte des Weges sehe ich einen Steg, zu dessen Seiten lichte Engel stehen. Er ist beweglich und so schmal, daß man ihn nur einzeln betreten kann; aber keiner darf ihm ausweichen; alle müssen darüber!“
„Das ist El Mizan, die entscheidende Waage der Gerechtigkeit. Sie mißt jede Tat, jedes Wort und jeden einzelnen Gedanken. Lege das leiseste, kürzeste deiner Gefühle darauf, so wird sie dir sagen, wie schwer es vor dem allwissenden Erforscher deines Innern wiegt! Siehst du, was die Engel an diesem Steg, an dieser Waage, tun?“
„Soeben tritt einer aus ihren Reihen hervor und nimmt die über die Waage gegangene Seele an der Hand, um sie nach der Brücke zu leiten.“
„Nicht nur nach der Brücke, sondern über sie hinüber! Diese Seele ist gewogen und der Gnade Gottes wert befunden worden. Darum wird sie an der Hand ihres lichten Führers glücklich über Es Ssiret gelangen. Aber die zu leicht Gefundenen, welche hier auf Erden stolz auf ihre Vorzüge pochten oder, ihrer Trägheit frönend, sich nur auf ihre vermeintliche Sündlosigkeit verließen und darum versäumten, wirkliche Arbeit zu vollbringen, anstatt in bequemer Sorglosigkeit kommen zu lassen, was da kommen werde, diese finden hier keinen Beschützer, sondern bleiben auch hier ihrem gewohnten Selbstvertrauen überlassen. El Halahk, der Abgrund des Verderbens, steht für sie offen; denn schon hier, in der Stunde des Todes, nicht erst im, sondern bereits am Jenseits, tritt das große Gesetz der ewigen Gerechtigkeit in Kraft, daß der Mensch genau mit dem bestraft wird, womit er auf Erden sündigte. Trau ja den friedlichen, still lächelnden Zügen einer Leiche nicht! Sie ist ein abgelegtes Gewand, dem du nicht anzusehen vermagst, unter welchen Qualen die Besitzerin, die Seele, von ihm schied. Der Tod tritt nicht mit dem letzten Wort ein, welches der Sterbende spricht, auch nicht mit der letzten Bewegung, die man an ihm bemerkt, und kein Irdischer vermag zu ergründen, was zwischen diesem Wort oder dieser Bewegung und dem wirklichen Schritt hinüber für eine Folterpein zu überstehen ist! Nun richte deine Augen auf die vorübergehenden Scharen selbst! Du siehst, wie sie sich zusammenfinden und sich ordnen, um, zueinander passend, in Gruppen den Entscheidungsweg zurückzulegen. Sag mir, was du erblickst! Was du nicht
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