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19 - Am Jenseits

19 - Am Jenseits

Titel: 19 - Am Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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die Gegenwart von hundert Kriegern mir nicht den Vorwand geben können, sie nur auf eine Stunde zu verlassen. Unsere gemeinschaftlichen Erlebnisse müssen dich ja genugsam belehrt haben, daß die Gefahr meist plötzlich und ganz unerwartet kommt und oft größer ist, als man es für möglich gehalten hat. Nein, wir bleiben bei deiner Hanneh. Mit El Ghani kommen wir noch zeitig genug zu sprechen!“
    Damit war sein Wunsch beiseite gebracht. Selbstverständlich lieferte uns nun das Zusammentreffen mit dem Perser ein hochinteressantes Gesprächsthema, welches Halef mit Hanneh und seinem Sohne auf das eingehendste behandelte, wobei er sehr bestrebt war, zu verhüten, daß der von ihm gemachte Fehler berührt wurde. Dieses Vorhaben gelang ihm auch vollständig.
    Die Mittagszeit war vorüber, und die Sonne hatte den Scheitelpunkt ihres Tagesbogens hinter sich. Die Hitze hatte ihren höchsten Grad erreicht, und so machten wir Halt, um die Kamele nicht zu sehr anzustrengen, sondern ihnen eine kurze Rast zu gönnen.
    Der Münedschi erwachte, als wir ihn aus dem Sattel hoben, nicht aus seinem schlaf ähnlichen Zustande, fiel aber sonderbarerweise nicht um, als wir ihn auf die dazu ausgebreitete Decke setzten. Es schien also trotz seiner Geistesabwesenheit eine Art seelisches Prinzip vorhanden zu sein, durch welches die Bewegung seines Körpers beeinflußt wurde. Während er im übrigen vollständig regungslos wie eine aus Holz geschnitzte Figur dasaß, ahmten seine Lippen von Zeit zu Zeit, als habe er einen Tschibuk im Munde, das Tabakrauchen nach. Das sah trotz seiner Ehrwürdigkeit fast lächerlich aus, doch war die Teilnahme für ihn eine so ernstliche, daß sich auf keinem Gesichte ein Lächeln zeigte.
    Da breitete er plötzlich die Arme nach beiden Seiten aus, als ob er sich rechts und links festhalten wolle. Ich griff schnell zu und stützte ihn, sonst wäre er umgefallen. Er tat einen tiefen, tiefen Atemzug, bewegte den Kopf, als ob er sich im Kreise umsehen wolle, und fragte dann:
    „Wo sind wir jetzt?“
    „Vier Reitstunden im Norden des Bir Hilu“, antwortete ich.
    „Wer seid ihr? Meine Gefährten seid ihr nicht.“
    „Wir sind die Haddedihn, welche dich heut früh aus dem Grabe genommen haben.“
    Da richtete er, dem Klange meiner Stimme folgend, die weitgeöffneten, strahlenden Augen auf mich und sagte:
    „Ja, ich besinne mich. Ich bin nicht mehr bei El Ghani, sondern bei euch, und du bist der Gelehrte aus dem Wadi Draha; ich erkenne dich am Klang deiner Rede. Ich war nicht hier bei euch, sondern an einem hohen, lichtherrlichen Ort und habe deinen Schutzengel gesehen. Er heißt Marrya (Marie) und befahl mir, dich zu grüßen. Seine Wohnung schmiegt sich an die Stufen von Allahs Thron; seine Gestalt ist Schönheit, sein Gewand Weisheit, seine Stimme Sanftmut und sein Blick Liebe, Liebe, nichts als Liebe. Ich sah seine Hände ausgebreitet über dir, und Glaube, Zuversicht und Gottestreue floß von ihnen auf dich hernieder. Ich sah dich selbst in zwei verschiedenen Gestalten, welche gegeneinander kämpften; die eine war dunkel, wie der Schatten der Nacht, welcher sich gegen die Morgenröte empört, die andere hell und rein, wie das sanfte Licht, welches um christliche Altäre leuchtet. Die dunkle bestand aus deinen Fehlern, die du noch nicht überwunden hast, die lichte aus den Gedanken und Gefühlen, welche du der Vervollkommnung und dem Himmel weihst. Die finstere war stark, gewandt und listig, die helle aber mächtiger als sie, gewappnet mit dem Schild der göttlichen Gnade und mit dem Schwert der Willensfestigkeit. Und indem ich sie miteinander ringen sah, hörte ich die Stimme deines Engels: ‚Bange nicht für ihn, denn er wird siegen und immer reiner werden, bis das Dunkel sich ganz in Licht verwandelt hat. Er kann nicht unterliegen, denn er weiß, ich schütze ihn!‘ Um dir diese Worte des Herrlichen zu sagen, kehrte ich zu dir zurück; ich besinne mich!“
    Er hatte in einem Ton gesprochen, als ob derartige befremdende Mitteilungen für ihn gar nichts Besonderes seien. Es hatte zwar nicht handwerksmäßig wie zum Beispiel bei einer Kartenlegerin geklungen, aber doch gewohnheitsartig und dabei unbefangen und überzeugt. Ich schwieg, denn ich wußte wirklich nicht, was ich darauf sagen sollte. Er schien aber auch gar keine Antwort zu erwarten, denn seine soeben an einem ‚hohen, lichtherrlichen Orte‘ gewesenen Gedanken beschäftigten sich sofort mit etwas sehr Materiellem:
    „Gebt mir Tabak!“ bat

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