19 - Am Jenseits
beschrieb, gesehen habe, ist es mir, als müßtest grad du, der mich aus dem Grabe geholt hat, alles wissen, was ich jenseits desselben liegen sehe. Fürchte dich nicht! Es entspringt daraus kein Schaden für deine Seele und für deinen Glauben, sondern es wird dir dadurch die herrliche Erkenntnis gegeben, daß die Liebe der Ursprung alles Bestehenden ist und daß nur sie allein den Weg zum irdischen Glück und zum Paradies zeigt!“
„Hast auch du die Liebe?“ fragte ich ihn, als er jetzt schwieg, fast genauso, wie ich ihn heut früh nach der Erklärung des Alispruches gefragt hatte.
„Ich habe sie und finde sie doch nicht“, antwortete er. „Kannst du das begreifen?“
„Ja.“
„Indem du dieses Ja aussprichst, denkst du an die Gegenliebe; sie ist es aber nicht, die ich meine, und doch meine ich auch sie. Du wirst mich freilich nicht verstehen!“
„Ich verstehe dich. Es gibt nicht Liebe und Gegenliebe, also Liebe hin und Liebe her. Die Liebe ist eins, ist unteilbar.“
„Das ist richtig, o wie so richtig! Die Liebe ist eine Gotteskraft, ist die Gotteskraft; sie kann nicht wie mit dem Messer zerschnitten werden, so daß jeder einzelne Mensch einen für ihn bestimmten Teil bekommt, der nun keine andere als nur seine Liebe ist. Zu sagen, ich liebe meine Mutter, ich liebe mein Kind, ist falsch, denn die Liebe, die wahre Liebe, läßt sich nicht begrenzen, nicht auf Personen beschränken; Liebe ist Leben, und Leben ist Liebe. Wie du sagst, ich lebe, so mußt du auch sagen, ich liebe. Und wie es unrichtig sein würde, zu sagen, ich lebe meinem Freund, so ist es auch nicht richtig, zu sagen, ich liebe meinen Freund. Die wahre Liebe kennt nicht ihr Gegenteil, kennt nicht den Haß; sie umfängt alle Wesen; sie kann kein einziges ausschließen, und wer diese wirkliche, diese Gottesliebe besitzt, von dem kann also nicht gesagt werden, daß er seinen Bruder, seine Schwester, daß er einen einzelnen Menschen liebe. Du lebst. Kannst du dieses dein Leben zerteilen? Du liebst. Kannst du diese deine Liebe zerlegen? Wenn du einen Menschen liebst, weil er dir nahesteht, und den andern, fernen nicht, so denke ja nicht, daß dies Liebe sei. Die Liebe kennt kein ‚Weil‘ und kein ‚Warum‘, kennt überhaupt keinen Grund als nur sich selbst. Nun wundere dich nicht, wenn ich dir deine Frage zurückgebe: Hast du die Liebe? Hast du diese wirkliche, diese richtige Liebe?“
Er richtete die toten und doch so hellen Augen auf mich. Es sollte der Ausdruck der Frage in ihnen liegen, aber der Blick war leer und inhaltslos wie die Herzen der Millionen, welche so viel von Liebe sprechen, ohne sie zu besitzen. Seine Frage, obwohl es genau dieselbe war, mußte mich, den Christen, ganz anders treffen, als die meinige ihn, den Mohammedaner, hatte treffen können. Da er mich für einen Anhänger des Islam halten sollte, durfte ich nicht von der Liebe sprechen, welche Christus lehrt; da ich aber doch etwas sagen mußte, weil aller Augen jetzt auf mich gerichtet waren, so antwortete ich:
„Ich befleißige mich, keine Ausnahme darin zu machen, daß ich alle Menschen mit meinem Herzen umfange. Ich tue das Gute und verabscheue das Schlechte, aber ich hasse nicht die Person dessen, welcher schlecht handelt. Es ist mein eifrigstes Bestreben, ein Kind Allahs zu sein, und ich hege den aufrichtigen Wunsch, in diesem Sinne alle Menschen als meine Brüder und Schwestern behandeln zu dürfen. Hoffentlich ist das die Liebe, welche du meinst!“
„Nein, sie ist es nicht. Du sprichst vom Bestreben, vom Befleißigen, vom Wünschen, hast also das noch nicht, was du erstrebst und wünschest. Die wahre Liebe hofft nicht und wünscht nicht, denn sie ist ja an sich schon die Erfüllung, die ausgeführte, volle Tat. Sie ist die einzige Macht, die einzige Kraft im Himmel und auf Erden. Nenne mir die Namen aller scheinbar andern Kräfte, sie sind doch nichts als nur verschiedene Erscheinungs- oder Wirkungsformen von ihr. Die Liebe hört nie auf. Sie hat keinen Anfang und kein Ende, sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Beziehung; also kann es außer ihr nichts anderes geben. Sie erfüllt das Sonnenstäubchen und den Weltenraum, die kurze Sekunde des irdischen Zeitmaßes und auch die ganze Ewigkeit. Sie läßt sich nicht einteilen in Eltern-, Kindes-, Gatten-, Freundes- und allgemeine Menschenliebe. Wer sie so zerstückeln zu können meint, dem ist sie unbekannt. Unser Erkennen und unser Weissagen ist solches Stückwerk, vor der Liebe aber, die
Weitere Kostenlose Bücher