19 - Am Jenseits
geraden und darum auch kürzesten Linie abzuweichen?“
Da machte er eins seiner allerliebsten, pfiffigen Gesichter und antwortete:
„Du betest täglich das christliche Vaterunser und handelst jetzt doch selbst gegen den Teil desselben, welcher ‚Führe uns nicht in Versuchung!‘ lautet. Du weißt gar wohl, was ich will, denn ich habe es ja erst von dir gelernt. Man glaubt am Brunnen, daß wir von Norden kommen werden, und darum machen wir einen Umweg, um ihn aus einer andern Richtung zu erreichen.“
„Hältst du diese Vorsichtsmaßregel heut für notwendig, Halef?“
„Vorsicht ist stets notwendig, das mußt du dir merken, Effendi. Selbst dann, wenn gar keine Veranlassung dazu vorzuliegen scheint, ist Vorsicht immer besser als Unvorsichtigkeit. Besonders auf einer Reise wie die unserige ist, kann man nie wissen, was die nächste Minute bringen wird.“
Wir hatten einen Augenblick angehalten; unser Trupp war beisammen, und so konnten alle diese seine Worte hören. Es machte ihn nicht wenig stolz, jetzt einmal Prediger der Bedachtsamkeit sein zu können, und so fuhr er in belehrendem und sehr nachdrücklichem Ton fort:
„Die Tapferkeit ist die erste und vorzüglichste Eigenschaft, welche ein Krieger besitzen muß; gleich nach ihr aber ist die Vorsicht nötig. Ein nur tapferer Mann kann sehr leicht tollkühn werden, und ein nur vorsichtiger kommt leicht in die Gefahr, daß man ihn der Feigheit zeiht. Ist aber die Tapferkeit mit der Vorsicht gepaart, so können Unbesonnenheiten ebenso wenig wie Bezweifelungen des Mutes vorkommen. Die Tapferkeit ist nur im Kampf, die Vorsicht aber zu jeder Zeit und an allen Orten nötig, zum Beispiel jetzt und hier. Wir wissen, daß die wenigen Mekkaner nach dem Bir Hilu geritten sind und daß der ihnen vierfach überlegene Basch Nazyr ihnen nachgeritten ist; wir sind überzeugt, daß sie vollständig ohnmächtig gegen ihn sind und noch weniger uns zu schaden vermögen; darum könnten wir den geraden Weg nach dem Brunnen getrost beibehalten. Ich schlage aber trotzdem vor, dies nicht zu tun, denn ich habe bereits gesagt, daß man auf einem solchen Ritte niemals weiß, was der nächste Augenblick bringen wird. Es können ja schon andere Leute am Brunnen gewesen sein, in welchem Falle sich das Zusammentreffen des Persers mit dem Liebling des Großscherifs gewiß ganz anders abgespielt hätte, als wir bisher angenommen haben. Wir müssen also vorsichtig sein und, ehe wir uns am Brunnen zeigen, zunächst zu erfahren suchen, wie es dort steht. Darum werden wir nicht direkt hinreiten, sondern uns ihm von einer andern Seite vorsichtig nähern. Sehen wir dann ein, daß dies nicht nötig gewesen wäre, so ist das um so besser; wir haben für den Verlust einer Viertelstunde das Bewußtsein eingetauscht, vorsichtig und also klug und weise gewesen zu sein. Nach welcher Seite reiten wir ab, rechts oder links, Sihdi?“
„Der Führer kennt die Gegend; also mag er entscheiden“, antwortete ich.
Der Ben Harb hielt es für geraten, den Umweg nach Osten zu machen, weil es dort die größere Anzahl hoher Felsen gab und wir also mehr Deckung hatten als auf dem westlichen Bogen. Es zeigte sich dann, daß diese Wahl die richtige gewesen war, und daß wir allerdings sehr wohlgetan hatten, vorsichtig zu sein.
Wir ritten südöstlich, teils über offene Flächen, teils an wie senkrecht aus dem Boden emporgetriebenen Felsengruppen vorbei, bis der Führer annahm, daß der Brunnen nun fast westlich von uns liege. Eben wollten wir in diese Richtung einbiegen, nachdem wir eine wirre Steinaufhäufung passiert hatten, als der uns jetzt voranreitende Ben Harb sein Pferd wendete und uns aufforderte:
„Zurück, schnell hinter die Felsen! Es kommen Reiter!“
„Wie viele?“ fragte Halef, als wir diesem Ruf Folge geleistet hatten und nun von den Nahenden nicht gesehen werden konnten.
„Es sind nur drei“, lautete die Antwort.
„So brauchen wir uns doch nicht zu fürchten. Warum hälst du uns also zurück?“
„Weil du von der Vorsicht gesprochen hast.“
„Drei Personen, und wir sind über fünfzig, da brauchen wir doch nicht vorsichtig zu sein!“
„Es handelt sich nicht um die Zahl der Personen“, warf ich ein. „Woher kommen sie?“
„Aus Westen“, belehrte mich der Führer.
„Also vom Brunnen. Gehören sie zu den Leuten des Persers?“
„Nein, Soldaten sind sie nicht.“
„So haben wir allerdings Grund, zurückhaltend zu sein. Wie nahe sind sie uns?“
„Nur zwei Minuten,
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