190 - Der Finder
Gondeln allerdings waren menschenleer im Moment, auch auf den Laufdielen oder in den offenen Kabinen war niemand zu sehen.
Mit nichts anderem hatte Victorius gerechnet: Diese und die benachbarten Plattformen waren nämlich ausschließlich von den älteren Prinzessinnen bewohnt. Und wo hielten die älteren Prinzessinnen sich gerade auf? Unten in der kleinen Bucht des Sees natürlich. Sie würden jetzt gerade ihr Bad beenden, um vor Sonnenuntergang wieder hier oben in Paris-à-l’Hauteur zu sein, der ersten Wolkenstadt des Kaisers.
Victorius erreichte die Hängebrücke und lief hinüber zur nächsten Plattform. Seine Brüder hatten bereits die übernächste erreicht. Sie wird mich verraten! Überdeutlich stand der Gedanke plötzlich in seinem Kopf. Es war nicht sein Gedanke, es war der Gedanke seines jüngsten Bruders Tansani. Und dann das Bild einer nackten Frau, die aus dem See auftauchte, sich die Brüste wusch und ein erschrockenes Gesicht machte, weil sie sich beobachtet fühlte. Seine älteste Schwester Rabana.
Hatte Tansani sich etwa erwischen lassen? Victorius wurde es heiß und kalt. Aber wie sollte er die Gedanken seines kleinen Bruders so klar lesen können? Der andere war fast hundert Meter entfernt auf der übernächsten Plattform!
Victorius wusste, dass die Götter ihm eine Begabung geschenkt hatten, die andere nicht besaßen. Vor zwei oder drei Jahren während des Französischunterrichts hatte er es zufällig entdeckt. Er hatte sich schlecht auf die Prüfung vorbereitet und dann die meisten Worte aus den Gedanken seines Vaters abgelesen. Noch mit niemandem hatte er bisher darüber gesprochen. Der Kaiser war direkt vor ihm gestanden, weil er ihm für jeden Fehler sofort eine Ohrfeige verpasste. Von Tansani jedoch trennten ihn zwei Schwebeplattformen…
Victorius rannte, so schnell er konnte. Drei Plattformen weiter holte er seine Brüder ein. Die Spannkonstruktion aus Bast und Holz schwankte unter den vielen Schritten. Die Knaben liebten das und waren stehen geblieben, um die Plattform zum Pendeln zu bringen.
Das war streng verboten.
Bald schaukelten auch die Ballons und die Gondeln und die Nachbarplattformen hin und her. Victorius betrachtete seinen jüngsten Bruder Tansani. Am nassen Kragen seines Hemdes hing das Insekt. Victorius pirschte sich heran, um es einzufangen. Er hob die Hand und stutzte – es war kein Insekt, es war eine kleine Fledermaus. Sie flatterte davon. Victorius blickte ihr hinterher. Rot versank die Sonne in der Wolkendecke. »Weiter!«, rief er. »Wir müssen uns beeilen!« Sie rannten zur nächsten Plattform.
Paris-à-l’Hauteur bestand aus achtzig solcher Schwebeplattformen, die alle durch Hängebrücken miteinander verbunden waren und einen Kreis bildeten. Dieser Kreis aus Schwebeplattformen wurde zusätzlich durch je zwei Radialstege stabilisiert, die sich in seiner Mitte in einem Winkel von neunzig Grad kreuzten und von je zehn Ballons getragen wurden, ihre zentrale Kreuzung von einem großen Luftschiff, das wiederum durch Seile mit jeder einzelnen Schwebeplattform verbunden war. Die Radialstege waren begehbar und durch Netze und Geländerseile gesichert.
Paris-à-l’Hauteur war die größte und zugleich älteste der dreieinhalb Wolkenstädte über dem Ufer des Sees; der Kaiser selbst und seine Konstrukteure und Baumeister nannten sie »Ballonstädte«.
An der vierten Stadt bauten sie gerade. Sie folgte einem neuen Konzept und sollte aus nur einer gewaltigen Schwebeplattform bestehen, in die ein linsenartiger Trägerballon eingebettet war, von neun Stabilisierungsballons gehalten. Nach ihrer Fertigstellung – in frühestens zehn Jahren! – wollte der Kaiser sie zu seiner neuen Residenz machen.
Plötzlich blieben seine Brüder stehen. Einige deuteten zur nächsten Schwebeplattform hinüber. Ein paar Männer arbeiteten dort an dem Ankerzugwerk.
»Folgendes: Wir gehen in kleinen Gruppen über die Hängebrücke«, sagte Victorius. »Und so langsam, als hätten wir viel Zeit.« Seine Brüder nickten, die erste Gruppe ging los. Sie überquerten die Plattform, ohne dass die Wartungsarbeiter sie beachteten. Sehr gut!
Später, in seiner Koje, fragte Victorius sich noch einmal, ob es wirklich sein konnte, dass er Tansanis Gedanken auf eine Entfernung von über hundert Metern empfangen hatte. Nein, beschloss er, es musste eine Sinnestäuschung gewesen sein. Er schlief ein.
Nachts weckte ihn die wütende Stimme seines Vaters. Die Stimme schimpfte in seinem Kopf.
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