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190 - Der Finder

190 - Der Finder

Titel: 190 - Der Finder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Zybell
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Victorius setzte sich auf und lauschte.
    Holt mir den Tunichtgut! , rief die Stimme. Er soll seine Strafe erhalten!
    Ein böser Traum? Warum aber hörte er dann nicht auf? Er schlief doch nicht mehr, er war doch wach. Ausgeschlossen, dass er die Gedanken seines Vaters empfangen konnte – die Palastgondel des Kaisers stand drei Plattformen weiter!
    Victorius rollte sich in seine Decken und versuchte weiterzuschlafen. Doch er musste an Tansani denken, und nicht lange danach hörte er Schritte auf der Hängebrücke. Er sprang auf, rannte aus der Schlafkabine und versuchte zu fliehen – und lief den Dienern des Kaisers direkt in die Arme.
    Sie brachten den strampelnden Knaben vor seinen Vater. Jean-François Pilâtre de Rozier war ein weißhäutiger Mann mit langen roten Locken. Manche große Schwestern und Brüder behaupteten, die prachtvolle rote Mähne sei nur eine Perücke.
    Tansani und ein gutes Dutzend der älteren Schwestern waren bei dem Kaiser und seinen Dienern. Außerdem einer der Wartungsarbeiter. Rabana fing an zu schimpfen und zu zetern, als Victorius vor den Vater trat. Der Kaiser fackelte nicht lange. Er ließ sich seine berüchtigte Lederrute bringen, legte Victorius übers Knie und verdrosch ihn. Schon nach dem ersten Hieb schrie Victorius aus Leibeskräften. Diese Taktik hatte sich bewährt.
    Als der Kaiser von seinem Sohn abließ und sich umdrehte, sah Victorius die kleine Fledermaus in einer Falte seines Gehrockes hängen.
    Zurück in der Schlafkabine dachte er lange und genüsslich an seine nackten Schwestern unten im See und schlief danach sehr gut. Am Morgen schlug er die Augen auf – über ihm an der Öllampe hing ein braunes pelziges Tierchen und blickte mit schwarzen Knopfaugen auf ihn herab. Die kleine Fledermaus! Sie hatte große Ohren und eine stumpfe schwarze Schnauze. Die etwas dunkleren Schwingen um den samtigen hellbraunen Körper gefaltet, hing sie mit den Hinterläufen an der Öllampe. Sie war nicht größer als der Daumen seines kaiserlichen Vaters.
    »Victorius ist froh, dass du da bist.« Er betrachtete sie ehrfürchtig.
    »Ich nenne dich Titana, bleibe bitte immer bei mir.«
    Victorius schlief wieder ein, und als er aufwachte, war es dunkel und er dreiundzwanzig Jahre älter. Drei Tage zuvor hatte zum ersten Mal ein roter Felsen in seinem Schädel gebrannt. Victorius hatte Zeit genug gehabt, seinen Plan zu schmieden.
    Er öffnete das Fenster aus hauchdünnem Glas und sah hinab auf den Hof. Der Mond schien, und eine leichte Brise wehte von Osten über die einen Kilometer durchmessende Trägerplattform, in deren Mitte sich der Palast aus Bambus, harzgetränkter Baumwolle und Bakelit erhob. Victorius roch den See und den Wald.
    Abschiedsschmerz überfiel ihn und machte ihn wehmütig.
    Vorsichtig ließ er sich an einem Seil auf den Palasthof hinab und huschte zu einem der Hangars aus straff gespannter Spinnenseide, in denen die Luftschiffflotte seines Vaters untergebracht war.
    Die PARIS war gleich das erste Schiff in der Reihe, denn der Kaiser benutzte es am liebsten. Natürlich stand es unter Dampf, um jederzeit startbereit zu sein und das Gewicht der fliegenden Stadt nicht unnötig zu erhöhen.
    Victorius blieb stehen und lauschte .
    Titana hing im Unhang seines Vaters – was auch immer in ihrer Umgebung gedacht und gesprochen wurde: Es entging ihm nicht.
    Sein Vater spielte Schach mit dem wachhabenden Offizier, die Diener dichteten Scherzreime.
    Der Prinz lächelte. So hatte er sich das vorgestellt! Er kletterte in die Gondel der PARIS. In der Nacht zuvor hatte er sie mit allem beladen, was er brauchte. Er machte die Ankertaue los, öffnete ein Fenster und stieß einen Pfiff aus. Das Signal hatte sich im Lauf der Jahre bewährt; Titana würde gleich zum Fenster hereinflattern.
    Schon begann die PARIS zu steigen.
    Victorius öffnete die Luke neben den Armaturen, um das Feuer im Kessel anzuheizen. Je schneller er die Dampfmaschine auf Touren brachte, desto geringer die Chance seiner Verfolger. Und dass sein Vater ihn verfolgen lassen würde, war so sicher wie…
    »Was machst du da, Victorius de Rozier?«
    Der Schreck fuhr ihm in alle Glieder, er drehte sich um. Eine Gestalt stand vor dem Kartentisch. Sein Vater! Zum ersten Mal hatte Titana versagt. »Ich habe dich etwas gefragt!« Die Stimme klang kalt und fremd. Doch nicht sein Vater?
    »Victorius… Victorius wollte nur …«
    »Auf die Knie!«, herrschte der andere ihn an. Die Gestalt hob einen länglichen Gegenstand. Die

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