1913
würde in einer Ehe aus mir werden?« Wie sollte er umgehen mit dem, was er das »Recht der Ehefrau« nannte? Und was für ihn aus zwei Schreckensszenarien bestand: den körperlichen Ansprüchen der Gattin, aber vor allem auch den zeitlichen. So bittet er Felice, nicht noch einmal davon zu schreiben, dass sie bei ihm sitzen wolle, wenn er an seinen Büchern arbeite – denn wenn sie oder jemand anderes hinter ihm sitze, dann sei das Geheimnis des Schreibens gestört. Und dann schreibt er an Felice noch den Satz: »Dem Wagnis, Vater zu sein, würde ich mich niemals aussetzen dürfen.« Kann man mehr vor sich selbst warnen, als es Kafka in diesen Briefen tat? Aber Felice reagiert, obwohl zerrissen zwischen Büro und Zuhause, Briefeschreiben und Sorgen um die Familie, als sei es ihre göttliche Berufung, als Adressatin für Kafka und die Weltliteratur da zu sein. Gelassen und mit großem Ernst nimmt sie diese Aufgabe an.
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Überall drängt 1913 die Kunst voran in die Abstraktion. Kandinsky in München, Robert Delaunay und František Kupka in Paris, Kasimir Malewitsch in Russland und Piet Mondrian in Holland versuchen alle auf ihren eigenen Wegen, sich immer mehr von allen realen Bezügen loszueisen. Und dann gibt es da noch diesen jungen, wohlerzogenen, reservierten jungen Mann in Paris: Marcel Duchamp, der aber plötzlich nicht mehr malen will.
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In München geht eine Benefizauktion für Else Lasker-Schüler vollkommen schief. Franz Marc hatte auf rührende Weise Künstlerfreunde um Gemälde gebeten, um die von Karl Kraus in der »Fackel« initiierte Hilfsaktion mit weiterem Geld zu unterstützen: Und tatsächlich kamen am 17 . Februar Ölgemälde von Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Oskar Kokoschka, Paul Klee, August Macke, Alexej von Jawlensky, Wassily Kandinsky und Franz Marc selbst zur Versteigerung. Nur Ludwig Meidner aus Berlin lehnte ab (er habe selbst kein Geld und hungere). Es kam zur Auktion im Neuen Kunstsalon, doch niemand zeigte Interesse. So boten die Künstler gegensei-tig, um die totale Blamage zu verhindern, und es kamen 1600 Mark zusammen.
Der Gesamtwert der am 17 . Februar 1913 nicht versteigerten Werke würde heute bei circa 100 Millionen Euro liegen, ach was: bei 200 Millionen.
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Sigmund Freud arbeitet weiter an der Theorie des Vatermordes. Gleichzeitig feiern die neugegründeten Filmstudios in Potsdam-Babelsberg am 28 . Februar die Uraufführung des Films »Die Sünden der Väter« mit Asta Nielsen. Und, passend zum Titel, fühlte sich Asta Nielsen später mitschuldig »an dem Kitsch in jener Frühzeit des Films«. Auf dem Filmplakat trägt sie einen engen Rock und eine offene Bluse. Asta Nielsen war schlank, das war damals noch unüblich und eine Freude für die Karikaturisten, die einen Hungerhaken am Werk sahen. Die meisten Männer jedoch störte das wenig. 1913 war Asta Nielsen das Sexsymbol schlechthin, ein großer Vertrag mit ihr umfasste acht Filme zwischen 1912 und 1914 , die unmittelbar nacheinander abgedreht und aufgeführt wurden. In der neuen Zeitschrift »Bild und Film« hieß es: »Man drängt sich wie bei Hungersnot an Bäckertüren und bricht um ein Billett sich fast die Hälse. Dabei gibt es zahlreiche Leute, die den Film zwei- oder dreimal kurz hintereinander ansehen und immer wieder entzückt sind.« Auch Samuel Fischer, berühmtester Verleger seiner Zeit, sieht mit wachsender Bewunderung, wie Asta Nielsen die Massen bewegt. Er erkennt im Film das Medium der Zukunft und will seine berühmtesten Autoren überreden, künftig auch Drehbücher zu schreiben.
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Es ist 1913 , doch die Katastrophe für Arnold Schönberg lässt auf sich warten. Am Sonntagabend, dem 23 . Februar um halb acht, haben seine »Gurre-Lieder« Premiere im Großen Musikvereinssaal in Wien – und das Publikum erwartet sehnsüchtig einen neuen Skandal. Schon seine letzten Auftritte und Kompositionen hatten Wien verstört und für Tumulte gesorgt, der einstige Romantiker hatte sich konsequent zum »Neutöner« entwickelt. Letztes Jahr hatte er Entsetzen ausgelöst mit seinem »Pierrot lunaire, opus 21 «. Doch nun das: Plötzlich hört man von Schönberg keine moderne Radikalität, sondern pure Spätromantik. Fünf Vokalisten, drei vierstimmige Männerchöre, ein riesiges Orchester mit jeder Form von Flöte und Trommel und Streichinstrumenten. Allein 80 Streicher waren bei der Uraufführung aktiv, es ist der ganze Gigantismus der Jahrhundertwende, der
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