1913
frühstücken, mittagessen, abendessen, trifft André Gide, Henry van de Velde, den Insel-Verleger Anton Kippenberg, Romain Rolland und Stefan Zweig. Rilke klagt: »Menschen bekommen mir schlecht.« Vor allem steckt er in einem unangenehmen Missverständnis- und Beziehungsknäuel mit seinem alten Freund und Helden Auguste Rodin. Einst hatte er ihn mit seinem Buch in Deutschland zum Gott der Skulptur gemacht, doch nun mag sich der sperrige Bildhauer nicht fügen, als ihn Rilke anfleht, doch bitte, bitte seiner Frau Clara Rilke-Westhoff Porträt für eine Büste zu sitzen. Clara lebt mit der Tochter längst getrennt von Rilke, doch er fühlt sich verantwortlich, will ihr mit diesem Auftrag zum künstlerischen Durchbruch verhelfen. Aber Rodin bleibt hart, was Rilke nachhaltig verstimmt. Und als Rilke ihn mit Kippenberg besucht, um neue Fotografien für eine Neuauflage des Insel-Buches zu besprechen, nimmt ihnen Rodin nach einer Bedenkzeit die Fotografien wieder weg.
Clara ist in Paris, verzweifelt, hat kein Geld (sie wird von der Rilke-Vertrauten Eva Cassirer finanziell über Wasser gehalten) und hat alles darauf gesetzt, Rodin porträtieren zu dürfen. Da bittet Rilke Sidonie Nádherný, die Ex-Geliebte und Vertraute, die er gerade im »Hotel du Quai Voltaire« untergebracht hat, seiner Frau Porträt zu sitzen – allein Rilke scheint an solchen Arrangements keinen Anstoß zu nehmen, es ist ihm am wohlsten, wenn die Wunden der Vergangenheit mit dem Band der Harmonie zugepflastert werden. Stolz reckt Sidonie ihr Haupt und lässt ihre schönen Züge in Stein meißeln. Doch dann erschießt sich am 28 . Mai in München ihr geliebter Bruder Johannes von Nádherný. Sidonie bricht zusammen, versinkt in Depression und Rilke gleich mit: Er habe, schreibt er an seinen Verleger Kippenberg, »einen kleinen Zusammenbruch« gehabt, durch den Tod von Johannes, den er von den Besuchen im verwunschenen Schloss der Nádhernýs in Böhmen gut kannte, »und eben vorher ein neues Zerwürfnis mit Rodin, ebenso unerwartet wie jenes vor acht Jahren, aber, da es dazu kommen konnte, wohl endgültiger und nicht wieder gut zu machen«.
Sidonie verlässt panikartig Paris, Clara, beschäftigungslos, flieht zurück nach München, und Rilke, irgendwie erleichtert, dass er wieder aus der Distanz lieben kann, nimmt sie beide an die Hand, mit Briefen, mit Worten, mit Tröstungen, das kann er. Clara arbeitet in München weiter an einer Büste, die die Trauer noch nicht kennt. Als Sidonie im Herbst die Büste erstmals sieht, besucht sie Clara bereits mit ihrem neuen Freund. Sein Name: Karl Kraus.
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Um ein Gefühl zu bekommen für die kulturellen Vernetzungen im Paris des Jahres 1913 und für das Leben des deutschen Lebemannes, Ästheten, Dandys, Kulturvermittlers und legendären Tagebuchautors Harry Graf Kessler genügt pars pro toto ein Blick auf dessen 14 . Mai 1913 : Er schläft lange, trifft dann zu einem frühen Mittagessen im Ritz André Gide und Igor Strawinsky, anschließend gehen sie gemeinsam zur Probe des neuen Balletts der legendären russischen Tänzer und Choreographen Nijinsky und Djagilew – die Musik kommt von Claude Debussy. Mit ihm und Jean Cocteau plaudern sie in der Pause. Dann kommt es inmitten der Probe plötzlich zum Streit: Strawinsky schreit, Debussy schreit, Djagilew schreit. Anschließend vertragen sich alle wieder und trinken nebenan einen Champagner. Kessler findet, wie er nachts seinem Tagebuch anvertraut, die Musik von Debussy »dünn«. Noch schlimmer findet er allerdings die Tanzkleidung des großen Nijinsky: kurze weiße Höschen mit schwarzer Samtborte und grünen Hosenträgern, das erscheint dann selbst Harry Graf Kessler als »unmännlich und komisch«. Wie gut, dass Nijinsky, der geschmacksverirrte Russe, kultivierte deutsch-französische Stilberater hatte: »Cocteau und ich überredeten ihn, sich morgen vor der Premiere schnell noch Sportshosen und ein Sportshemd bei Willixx zu kaufen.« Und so geschah es.
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Genau zwei Wochen später, die nächste Generalprobe in diesem besonderen Mai in Paris – Strawinskys »Le sacre du printemps« im Théâtre des Champs-Élysées. Diesmal geht Harry Graf Kessler gar nicht erst auf die Probe, sondern kommt direkt zur Probenfeier bei Larue – mit Nijinsky, mit Maurice Ravel, mit André Gide, mit Djagilew, mit Strawinsky, »wo allgemein die Ansicht herrschte, dass es morgen Abend bei der Premiere einen Skandal geben werde«. Und so kommt es auch. Die Premiere des
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