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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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der Stadt. Es ist nicht bekannt, dass er die Ausstellungen »Entarteter Kunst« von Picasso oder Egon Schiele oder Franz Marc gesehen hat, die 1913 in München für Furore sorgten. Die Künstler seiner Generation, die Karriere machten, waren ihm, dem Abgelehnten, ein Leben lang fremd, und er beäugte sie mit Argwohn, Neid und Hass.
    Wenn er nach Hause kommt, dann klopft er bei Frau Popp, um bei ihr etwas heißes Wasser für seinen Tee zu holen. »Erlauben Sie?«, sagt er immer und blickt treuherzig auf seine Kanne. Dem Schneider Popp geht das etwas auf die Nerven, er sagt dann schon mal: Jetzt setzen Sie sich zu uns und essen Sie was mit, Sie sehen ganz verhungert aus. Aber das verschreckt Hitler, er nimmt seinen Teekessel und verdrückt sich in sein Zimmer. Im ganzen Jahr 1913 bekommt er dort nicht ein einziges Mal Besuch. Tagsüber malt er, nachts liest er zum Ärger seines Zimmergenossen Häusler bis drei oder vier Uhr in politischen Hetzschriften und Anleitungen, wie man als Abgeordneter in den bayerischen Landtag kommt. Das sieht die Frau des Schneiders einmal und sagt ihm, er solle die unsinnigen politischen Bücher lassen und lieber weiter schöne Aquarelle malen. Da sagt Hitler zu ihr: »Liebe Frau Popp, weiß man, was man im Leben braucht oder nicht braucht?«
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    »Berlin selbst ist mir höchst unsympathisch«, schreibt Ernst Reuter an seine Eltern. »Staub und entsetzlich viel Menschen, die alle rennen als ob die Minute 10  Mark kostet.« Ein Mann, der das Geheimnis einer Stadt so schnell versteht, muss später deren Bürgermeister werden.
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    Stefan George kommt Ende Mai nach Heidelberg und wohnt dort wie immer in der Pension am Schlossberg 49 . An Pfingsten will er dort alle seine Jünger um sich versammeln. Aber jetzt ist es erst einmal sehr heiß, und so geht George ins Schwimmbad, nicht um zu baden natürlich, das würde der Prophet, der schon wie eine Büste durch das Leben wandelte, nie tun. Nein, um einen holden Knaben mit lockigem Haar zu sehen: Percy Gothein, jenen kaum 17 -jährigen Gymnasiasten und Professorensohn, der zum Prototyp des George-Jüngers werden wird. Drei Jahre zuvor hat George ihn mit seinem Späherblick auf der Neckarbrücke entdeckt und den Gundolf-Brüdern zugeraunt, dass er »ähnlichkeit mit einem archaischen relief hätte so dass es sich lohnte von ihm eine aufnahme zu machen«. Wenig später wurde das Foto dann wirklich gemacht. Bald darauf besucht er George bei dessen Mutter in Bingen, der bringt ihm – die psychologischen Klischees sind gnädig – das Binden des Krawattenknotens bei und leiht ihm seine Samthosen. Doch als Percy also an einem Mainachmittag des Jahres 1913 ohne Krawatte und ohne Samthosen im Strandbad am Neckar ist, entdeckt er vor einer der Badekabinen im Gras Stefan George liegen. Das Gespräch, so berichtet Percy treuherzig, kam bald »zurück zum alten Griechenvolk, das man sich gerne so und in noch größerer Hüllelosigkeit denkt«. Undsoweiter. Abends dann arbeitet Stefan George weiter an seinem großen Buch, dem »Stern des Bundes«, der als umwabertes Geheimnis getarnten und in mythenschweren, traumwandlerischen Versen beschworenen Knabenliebe.
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    Albert Schweitzer notiert 1913 in sein Tagebuch: »Wenn alle Menschen doch das blieben, was sie mit vierzehn sind.« Ach, vielleicht auch lieber nicht. Anfang 1913 ist Bertolt Brecht vierzehn. Wenn man sein Tagebuch liest, dann freut man sich, dass er doch noch etwas anderes geworden ist, als er mit vierzehn war. Als Jünger Georges jedenfalls wäre er nicht in Frage gekommen: zu hässlich, zu jähzornig, zu wehleidig.
    Brecht, Schüler des Königlichen Realgymnasiums zu Augsburg, bejammert in seinen Einträgen in sein kaum vokabelbuchgroßes Diarium mit feinblau kariertem Papier das »Einerlei« und die »Fadheit« der endlosen Frühlingstage. Dagegen helfen ihm Spaziergänge, Radeln, Schachspielen und: Lesen. Fleißig notiert er seine Lektüre von Schiller, Nietzsche, Liliencron und Lagerlöf. Und dann legt der junge Mann los und vertraut seinem Tagebuch seine herrlich pubertäre Lyrik an. Es geht um den Mond und den Wind, um den Weg und das Abendrot. Dann kommt der 18 . Mai 1913 . Da erlebt er – inzwischen fünfzehn geworden – eine »miserable Nacht«. Genauer: »Bis 11 Uhr hatte ich starkes Herzklopfen. Dann schlief ich ein, bis 12  Uhr, da ich erwachte. So stark, dass ich zu Mama ging. Es war schrecklich.« Es wird aber schnell wieder. Schon am nächsten Tag hebt er zu dichten an. Da

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