1913
es warm war im Augsburger Mai, nannte er seine Zeilen »Sommer«:
Ich lieg’ im Gras im kühlen Schatten
einer uralten, schönen Linde,
und all’ die Gräser auf den sonnenhellen Matten
neigen sich leise im Winde.
1913 also liegt er noch allein unter der Linde. Bald wird er dann gemeinsam unterm Pflaumenbaum liegen, wie wir aus Brechts Jahrhundertgedicht »Erinnerung an die Marie A.« wissen, jener Vergewisserung der frühesten Augsburger Liebe. Das Bedichten der Bäume ist bereits 1913 für Brecht äußerst beruhigend. Schon einen Tag, nachdem er nachts zu seiner Mutter ins Bett gekrochen ist, also am 20 . Mai notiert er: »Heute ist’s mir besser.« Aber gleich am nächsten Tag vermeldet er: »Vormittags ganz gut. Jetzt, Mittags, Rückfall. – Stechen im Rücken.« Man kann bei Brecht zwischen grassierender Hypochondrie und echten Herzrhythmusstörungen schwer unterscheiden. Der Arzt jedenfalls, den er dann bald aufsucht, stellt ein »nervöses Leiden« fest. Schon mit 15 Jahren also darf Brecht stolz an denselben Symptomen leiden wie Franz Kafka und Robert Musil.
Auch in Bezug auf seine Lebenseinstellung gibt es überraschende Parallelen zu den beiden anderen nervös Leidenden, wie sein Gedicht »Die Freundin« aus diesem Frühjahr verrät:
Fragst du, was Liebe ist –
ich fühlt’ sie nicht, –
fragst du was Freude ist,
mir glomm niemals ihr Licht.
Fragst du, was Sorge sei –
die
kenne ich,
die
ist die Freundin mein,
die
liebet mich!
Sorgen über Sorgen also in Augsburg. Hat denn niemand gute Laune in diesem Mai 1913 ?
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Offenbar nein. Aber immerhin, am 31 . Mai wird Peter Frankenfeld geboren.
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Es erscheint Rudolf Martins schönes Buch »Adlige Millionäre in Norddeutschland 1913 «. Darin werden 917 Adelige aus Pommern, Schlesien, Altpreußen, Sachsen und Brandenburg mit einem frei verfügbaren Vermögen über einer Million Reichsmark aufgeführt. Die meisten und die reichsten von ihnen wohnen in Schlesien. An der Spitze steht Fürst Henckel von Donnersmarck auf Schloß Neudeck im Regierungsbezirk Oppeln mit einem Vermögen von 250 Millionen Mark bei einem Jahreseinkommen von über 13 Millionen Mark.
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Die »Brücke« bricht zusammen. Im Mai 1913 löst sich die Künstlergruppe endgültig auf. Die von Ernst Ludwig Kirchner verfasste Chronik der »Brücke« provoziert Erich Heckel und Schmidt-Rottluff. Kirchner stellt sich als Führungsfigur der Gruppe dar, als Erfinder der expressionistischen Holzschnitte und der expressionistischen Skulptur und überhaupt als Spiritus Rector der Bewegung. Für die erste Seite der »Chronik« hatte Kirchner einen Holzschnitt mit Porträts der Mitglieder geschaffen, sein eigenes Haupt oben links hatte er, im Ernst, mit einem kleinen Strahlenkranz umgeben. Und der Torbogen der Grafik, »Die Brücke«, ruhte auf seiner Signatur: »E L Kirchner«. Aus Sicht der anderen Gruppenmitglieder war das egozentrisch und unwahr. Aus Sicht der Kunstgeschichte aber ist es eigentlich wahr – Kirchner ist das Genie unter einer Gruppe von großen Meistern. Und in seinen hellen Phasen, wenn ihm nicht die Depression, die Drogen und die Medikamente das Hirn vernebelten, wusste er das auch. Es kommt zum großen Streit – Schmidt-Rottluff und Erich Heckel setzen am 27 . Mai 1913 einen Brief auf, in dem sie die passiven Mitglieder der Künstlervereinigung »Brücke« von deren Auflösung unterrichten. Pechstein hatte man ein Jahr zuvor ausgeschlossen, da er ohne Erlaubnis der anderen in der Berliner Secession ausgestellt hatte, was Kirchner als »Vertrauensbruch« empfand.
»Wir teilen Ihnen hierdurch mit, dass die Unterzeichneten beschlossen, Künstlergruppe »Brücke« als Organisation aufzulösen. Cuno Amie, Erich Heckel, E. L. Kirchner, Otto Mueller, Schmidt-Rottluff. Berlin, 27 . Mai 1913 .« Es folgen vier Unterschriften. Kirchner unterschreibt nicht.
Unmittelbar nachdem er den Brief losgesandt hat, packt Karl Schmidt-Rottluff seine Koffer. Er muss raus aus Berlin, dieser Stadt, die ihm, dessen Kunst stets etwas wunderbar Bäurisches behalten hatte, immer fremd blieb, die ihm und seinem Schönheitssinn zusetzte. Ganz anders als bei Kirchner. Der kam erst in der Stadt zu sich. Kirchners Kunst ist städtisch. Schmidt-Rottluff immer ländlich. Er will an die See und so weit weg wie möglich, deshalb fährt er nach Nidden auf der Kuhrischen Nehrung. Und zwar in den Gasthof von Hermann Blode, der als einziger Dorfbewohner Zimmer vermietet. Bald findet
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