1913
zurückgezogen.
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In Wien malt Oskar Kokoschka weiter auf der Leinwand, die so groß ist wie das Bett seiner Geliebten Alma, der Witwe Gustav Mahlers. Er trägt einen großen Schmerz in sich, denn Alma hat gerade das gemeinsame Kind abgetrieben. Er kann ihr nicht verzeihen, dass sie diese Frucht ihrer Liebe zerstört hat. Immer wieder malt er anklagende Bilder von Alma mit dem gemeinsamen Kind, dessen Leben er sich künstlerisch erträumt. Er ist bei der Abtreibung in einer Wiener Klinik dabei gewesen und hat die blutige Watte mit in sein Atelier genommen, immer wieder vor sich hin murmelnd: »Das wird mein einziges Kind bleiben« (er behielt tragischerweise recht).
Und doch ist er weiterhin sexuell besessen von Alma, kann nur arbeiten, wenn sie ihm ihre Gunst geschenkt hat. So steht er tagaus, tagein im Atelier in dem roten schrillen Schlafanzug Almas, den er ihr am Anfang ihrer Affäre entrissen hat und den er immer anzieht, wenn er malt. Er malt 1913 fast hundertmal: Alma. Es ist eine abenteuerliche Liebe, voll Wut, Raserei, Glück, »so viel Hölle, so viel Paradies«, wie Alma es nennt. Er wollte von Alma während der Liebe geschlagen werden, was sie aber nicht mag, doch Oskar fleht darum in seinen täglichen Briefen, ob »Du mit Deinem schönen lieben Handerl auf mich schlägst«?
Zwischen den Küssen schreit er seine Mordpläne hinaus und seine Wut. Es muss eine helle Freude gewesen sein.
Kokoschkas Eifersucht ist so kolossal, dass er, wenn er Almas Wohnung nachts verlässt, manchmal bis vier Uhr auf der Straße wartet, bis er sicher ist, dass kein anderer Mann die Treppen zu seiner Geliebten emporsteigt. »Ich dulde keine fremden Götter neben mir«, so schreibt er schön und schwachsinnig ehrlich. Seine Eifersucht erstreckte sich auch mit besonderer Inbrunst auf Gustav Mahler, Almas verstorbenen Mann. Immer wieder müssen sie sich deshalb direkt unter dessen Totenmaske lieben. Und Kokoschka fleht Alma an, die in ihrem untrüglichen Gespür für künstlerische Genies und den Genius Loci in diesem besonderen Mai natürlich in Paris gewesen ist: »Bitte, mein süßes Almi, hüte Dein süßes Körperl weiter vor zudringlichen Blicken und erstarke immer mehr im Gefühl, dass jede fremde Hand und jeder fremde Blick auf das Heiligtum Deines schönen Leibes eine Lästerung ist.« Ende Mai wird der Gottesdienst dann zur Magie. Oskar Kokoschka schreibt flehende Briefe nach Paris ins Hotel: »Ich muss Dich bald zur Frau haben, sonst geht meine große Begabung elend zu Grunde. Du musst mich in der Nacht wie ein Zaubertrank neu beleben.« Ganz langsam bekommt es Alma mit der Angst zu tun. Sie entscheidet sich, lieber noch eine Woche länger in Paris zu bleiben.
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In seinem Theaterstück »Der Snob«, an dem Carl Sternheim im Sommer 1913 arbeitet, versteckt er dutzende Anspielungen auf Walther Rathenau, den großen Aufsichtsratsvorsitzenden der AEG , Romantiker, Autor, Politiker, Denker. Und daneben eine der narzisstischsten Personen seiner Zeit. Bei der Premiere von »Der Snob« sitzt Sternheims Gattin Thea dann direkt neben Rathenau und befürchtet, dass er merkt, dass er es ist, der da auf der Bühnen dargestellt ist. Aber Narzissmus schützt auch. Rathenau bleibt ungerührt. Er sagt abschließend nur, er wolle das Stück noch einmal genau lesen.
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Der 27 -jährige Ludwig Mies van der Rohe kehrt nach Berlin zurück und macht sich als Architekt selbständig.
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Max Beckmann schreibt in sein Tagebuch: »Der Mensch ist und bleibt doch ein Schwein erster Klasse.«
JUNI
Das ist der Monat, in dem klar wird, dass es nie zu einem Krieg kommen kann. Georg Trakl sucht seine Schwester und Erlösung vor der Verdammnis, Thomas Mann nur seine Ruhe. Franz Kafka stellt eine Art Heiratsantrag, der schiefgeht. Er hat ihn mit einem Offenbarungseid verwechselt. D. H. Lawrence veröffentlicht »Söhne und Liebhaber« und brennt mit der dreifachen Mutter Frieda von Richthofen nach Oberbayern durch – sie wird sein Vorbild für Lady Chatterley. Ansonsten liegen überall die Nerven blank. Im Kino zerstört Asta Nielsen in den »Sünden der Väter« das unbekannte Meisterwerk. Das deutsche Heer soll immer weiter wachsen. Henkell Trocken feiert die deutsch-französische Freundschaft.
Es würde nie wieder zu einem Krieg kommen können, da war sich Norman Angell sicher. Sein Buch »The Great Illusion« (»Die falsche Rechnung«) von 1911 wurde zu einem Weltbestseller. 1913 schreibt er einen vielbeachteten »Offenen Brief
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