1913
Schmidt-Rottluff eine schlichte, ausrangierte Fischerhütte am Strand, in der zuvor schon Max Pechstein zwei Sommer verbracht hat. Als er seine Malsachen ausgepackt hat, schreibt er am 31 . Mai an einen Freund eine Postkarte: »Wie es scheint bin ich für einige Zeit hier in Nidden gelandet. Eine merkwürdige Gegend das!« Schmidt-Rottluff, von den Querelen um die »Brücke« und von der vorwärtsstürmenden, kraftraubenden Metropole Berlin erschöpft, kommt an der Nehrung ganz zu sich. Heide, Kiefern, das Haff im Rücken – und dann: Sand, Sand, Sand, eine schier unendliche Düne, die er auf seinen Aquarellen und Gemälden zu seinem Paradies macht, in dem sich die ersten Menschen unschuldig betrachten. »Sonne im Kiefernwald« heißt eines der Bilder, und man fühlt sich in der Südsee. Erstmals malt er große Aktbilder, Frauengruppen in den Dünen, Tuschzeichnungen, Holzschnitte – es ist eine künstlerische Befreiung. Er malt die Frauen und Kinder der Fischer, alle sind nackt und ungezwungen. Vielleicht war Schmidt-Rottluffs Kunst nie so sinnlich wie in diesem beginnenden Sommer am Meeresstrand. Er malt die Gesichter, als seien es geschnitzte Köpfe aus Ozeanien, die Körper aber sind voller Vitalität. Nur wenn er über die Nacktheit in seinen Werken schreibt, verkrampft er wieder und es kehrt der Kopfmensch zurück. »Es ist nichts anderes mit den Brüsten. Sie sind ein erotisches Moment. Aber ich möchte es loslösen von der Flüchtigkeit des Erlebnisses, gewissermaßen eine Beziehung herstellen zwischen dem kosmischen und dem irdischen Augenblick.« Von wegen: »Entzauberung der Welt«. Sondern: Kosmische Brüste! Eine bislang von der Forschung völlig übersehene anatomische Entdeckung des Jahres 1913 .
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Im Mai rüstet sich Berlin für das größte gesellschaftliche Ereignis des jungen Jahrhunderts: die Hochzeit von Prinzessin Viktoria Luise von Preußen mit Herzog Ernst August von Hannover am 24 . Mai. Das Brautpaar fährt durch die Straße Unter den Linden, wo Tausende von Menschen jubeln. Und dann kommt es, wie das »Berliner Tageblatt« vermeldet, zu einem besonderen Moment: Demokratie und Monarchie in ungleicher Gleichzeitigkeit. Beziehungsweise: »Es ist wahrhaft ein herzzerreißender Anblick zu sehen, wie einmal der demokratische Autobus vor dem vorbeifahrenden aristokratischen Galawagen warten muss, dann aber wieder der Galawagen einhalten muss, um den Autobus passieren zu lassen.« Zur Hochzeitsfeier reisen sowohl der russische Zar Nikolaus II . als auch der britische König Georg V. nach Berlin und Potsdam – und daneben ungezählte gekrönte und ungekrönte Häupter aus ganz Europa. Die Hochzeit war vor allem ein diplomatisches Ereignis. So kommentierte das »Berliner Tageblatt« die Zusammenkunft des Königs des Vereinigten Königreichs und des Zaren: »Selbstverständlich war der Besuch nicht politisch. Aber nach den bewegten politischen Vorgängen des letzten Winters musste es als willkommenes Exemplum einer Entspannung der internationalen Situation angesehen werden, dass gleichzeitig die Herrscher Russlands und Großbritanniens, die maßgebenden Monarchen der Tripleentente, beim deutschen Kaiser zu Gast waren. Es liegt in der Natur der Dinge, dass derartige persönliche Berührungen auch auf die politische Haltung der Kabinette abfärben, wenn auch nur in dem Sinne, dass auf allen Seiten der Friedenswille noch etwas schärfer akzentuiert wird.«
So waren die Monarchen der Welt am 24 . Mai in einzigartiger Weise zur Trauung um 17 Uhr in der mit Hunderten von Kerzen erleuchteten Schlosskapelle versammelt. Nur Franz Ferdinand, der österreichische Thronfolger, war nicht eingeladen – wurde er schon in Wien wegen seiner nicht standesgemäßen Braut gemieden und schikaniert, wo es ging, war diese öffentliche Demütigung auf europäischer Bühne ein neuer Nackenschlag für ihn. Alle anderen feiern bis in die frühen Morgenstunden. Doch dann wird den Königen und Zaren noch vor dem Frühstück von ihren Geheimdiensten die Nachricht aus Wien überbracht: Oberst Redl ist überführt und hat sich erschossen. Doch der Zar lässt sich nicht anmerken, dass ihm nun sein wichtigster Informant weggefallen war. Er köpft sein Frühstücksei und parliert. Die Form bleibt gewahrt.
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Es ist ein anstrengender Frühling für Rainer Maria Rilke in Paris. Er kommt schon wieder kaum zum Dichten. Er muss leben. Zumindest so etwas in der Art. Freunde und Bekannte wollen ihn sehen, er geht
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