1913
der Juniausgabe seiner Zeitschrift »Der Brenner« ab. Aber Trakl macht nichts mehr stolz. Er stürzt immer tiefer.
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Edvard Munch malt sein Gemälde »Die Eifersucht«.
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Thomas Mann sitzt derweil in seinem Landhaus in Bad Tölz und will anfangen zu schreiben. Er hat eine Ahnung von einer neuen großen Erzählung, sie soll in Davos spielen, in den Sanatorien, die er kennengelernt hat, als er Katia dort besuchte. Ein Universum für sich. Es soll ein Gegenstück zu »Der Tod in Venedig« sein, der gerade in den Buchhandlungen liegt, diesmal, wie er in einem Brief schreibt, »bequem und humoristisch (obgleich wieder der Tod geliebt wird)«. Arbeitstitel »Der verzauberte Berg«.
Er will anfangen, die Kinder spielen draußen auf der Wiese Fangen, die Kinderfrau passt auf. Aber er kann nicht anfangen. Immer wieder muss er auf den Teppich in seinem Arbeitszimmer blicken, und dann kommt ihm der Ärger hoch über den Teppichhändler Schönemann, der ihn übers Ohr gehauen hat. Er hatte einen anderen Münchner Händler hier draußen, der taxierte den Teppich auf ein Drittel des Preises. Aber Herr Schönemann will nichts zurückzahlen, Thomas Mann zieht vor Gericht. Er blickt hinaus auf die Gipfel, legt dann den Füller zur Seite. Der verzauberte Berg muss warten. Er schreibt seinem Anwalt, damit der den Teppichhändler endlich zum Zahlen zwingt.
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Harry Graf Kessler fährt, wie immer im weißen Dreiteiler, mit dem Zug aus dem glitzernden Paris ins brodelnde Berlin und verfällt der Anmut Westfalens. »Fahrt durch Westfalen«; notiert er am 3 . Juni in sein Tagebuch, »überall Feldblumen im grünen Roggen und Korn; weich schwellende Hügellinien, ein golden-blauer Sonnendunst über Berg und Thal. Etwas Üppiges, Schweres, Weites, Mütterliches in der Stimmung, das von der intimen Grazie der französischen Landschaft sehr absticht. Dieses Deutsche der deutschen Landschaft wird ebenso sich einen Stil erfinden müssen, wie die französische Landschaft sich den Impressionismus als Stil erfunden hat.« So also spricht Harry Graf Kessler – genau eine Woche, nachdem sich in Berlin die Künstlergruppe »Die Brücke« aufgelöst hatte, die acht Jahre lang das Üppige, Schwere, Weite, Mütterliche der deutschen Landschaft im deutschen Expressionismus erfasst hatte. Und für die er keine Augen hatte.
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Das deutsch-französische Verhältnis 1913 in der Zeitschrift »Simplicissimus«: Es erscheint eine Anzeige von Henkell Trocken: »Von der Traube zum Fass in Reims. Vom Fass in die Flasche in Biebrich vollzieht sich der Werdegang unserer Marken Henkell Trocken und Henkell Privat. Wir sind die einzige deutsche Sektkellerei, die ebenso in der Champagne wie in Deutschland auf der absoluten Höhe der Organisation steht.« Man blättert um. Eine Seite weiter dann die Karikatur einer komplett französisierten Deutschen in herrlichem Gewand bei der nachmittäglichen Illustriertenlektüre. Dazu der Satz: »Diese ewigen Grenzzwischenfälle sind ja schon ekelhaft genug. Aber unsere Männer werden erst staunen, wenn die Franzosen mit ihren Modeschikanen angerückt kommen.«
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Der Reichstag verabschiedet am 29 . Juni in dritter Lesung die von der Regierung eingebrachte Wehrvorlage. Damit wird der Erhöhung der Friedenspräsenzstärke um 117 267 auf 661 478 Mann zugestimmt.
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An einem nicht schönen Tag des Jahres 1913 greift Franz Marc plötzlich zum Pinsel und malt ein Bild, das wie ein Fremdkörper aus seinem ganzen Werk heraussticht. Es geht hier nicht mehr ums Paradies, wo die Tiere sanft sind wie die Engel und die Menschen nicht gebraucht werden. Nein. Es geht um die Hölle. Franz Marc, aufgeschreckt von den Zeitungsmeldungen aus Südeuropa und immer blutigeren, hitzigeren Zerfleischungen dort, malt ein unheimliches, zähnefletschendes Bild. Er nennt es »Die Wölfe (Balkankrieg)«.
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Am 20 . Juni 1913 betritt zur Mittagszeit, mit mehreren Waffen behängt, der 30 -jährige arbeitslose Lehrer Ernst Friedrich Schmidt aus Bad Sülze die Bremer Sankt-Marien-Schule. Er hat für seinen Amoklauf mindestens sechs geladene Revolver dabei und dringt damit in die Klassenräume ein. Wenn er einen Revolver leergeschossen hat, greift er zum nächsten. 5 Mädchen zwischen 7 und 8 Jahren sterben, 18 Kinder und 5 Erwachsene werden schwer verletzt. Dann wird er von Passanten überwältigt. Er gibt zu Protokoll, dass er dagegen protestieren wolle, keine Anstellung als Lehrer gefunden zu haben.
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1913 erscheint nicht nur der
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