1913
erste Band von Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Sondern auch ein Werk von revolutionärer Kraft für die Philosophie des 20 . Jahrhunderts: Edmund Husserls »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie«. Husserls großer Paradigmenwechsel für die Philosophie war die Abwendung von den positivistischen Realien der Umwelt zu den Tatsachen des Bewusstseins. Und 1913 war das Jahr, in dem allerorten die Innenwelt zur Realität wurde: Als Bild, als Buch, als Haus, als Wahn.
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Oder auch: als rotes Buch. C. G.Jung beginnt in diesem Jahr, seine Träume und seine inneren Erlebnisse in einem in rotes Leder gebundenes Buch zu notieren – und sich danach selbst zu analysieren. Anfang des Jahres hatte er, der Präsident der »Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung«, den Vatermord an Sigmund Freud vollzogen. Er hatte nicht nur die Libidotheorie als zentralen Glaubenssatz der modernen Psychologie verworfen, sondern vor allem, wie er es selbst in seinem Brief nannte, »dem Propheten am Barte gezupft«. Der Vatermord wirft jedoch nicht nur den Vater, sondern auch den Mörder völlig aus der Bahn. Während Freud in Depression und unterdrückter Wut versinkt, gerät auch Jung in eine schwere Krise, weil ihm die Vaterfigur, zu der er so lange bewundernd aufgeblickt hat, fehlt. Er gibt seine Lehrtätigkeit an der Universität in Zürich auf und hat – genau wie Freud – Angst vor dem Wiedersehen, das immer näher rückt. Im September auf dem Kongress der Psychoanalytiker in München sollten die beiden verfeindeten Lager aufeinandertreffen.
Jung träumt schlecht, wird von Albträumen gepeinigt. Einer davon ist dann der Auslöser für das »Rote Buch«. Schweißgebadet war er von der Vision aufgewacht, dass ganz Europa unter den Wellen einer riesigen Flut versinkt. Überall Mord und Totschlag und Leichen und Verwüstungen. Tagsüber referiert er über Schizophrenie, aber nachts, in seinen unruhigen Träumen, hat er Angst, selbst schizophren zu werden. Vor allem der Traum mit der apokalyptischen Vision hängt ihm so lange nach, dass er ihn durch das Aufschreiben zu bewältigen versucht. Auch sonst geht es in seinen Träumen drunter und drüber, seit es ihm gelungen ist, eine sehr ungewöhnliche Dreieckskonstellation in seinem Leben zu etablieren: Sowohl seine Ehefrau Emma als auch seine Geliebte Toni Wolf hat er dazu bringen können, sich mit dieser Ménage à trois zu arrangieren. Sonntagabends kommt Toni sogar zum Nachtessen in die Familienvilla in Küsnacht am Zürichsee. Wie genau dann die Nacht läuft, darüber liegen keine Aufzeichnungen vor. Wir wissen nur, dass sowohl Emma als auch Toni als Analytikerinnen arbeiteten und das Dreiecksverhältnis viele Jahrzehnte aufrechterhalten wurde. Und dass Jung selbst die Erlebnisse der Tage und der Nächte in seinen Träumen durchwühlte und fleißig mit fiebernder Feder in seinem »Roten Buch« festhielt. »Auseinandersetzung mit dem Unbewussten« hat er dieses Experiment mit sich selbst genannt. Und ganz wie die Wassermassen, die in seinen Träumen von 1913 Europa überfluteten, brach auch aus Jungs Innerem eine Sturmflut empor: »Meine gesamte spätere Tätigkeit bestand darin, das auszuarbeiten, was in jenen Jahren aus dem Unbewussten aufgebrochen war und mich zunächst überflutete. Es war der Urstoff für ein Lebenswerk.«
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Der bald achtjährige Elias Canetti zieht mit seiner Mutter aus Galizien nach Wien und beginnt, die deutsche Sprache zu lernen.
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1913 ist das Jahr, in dem D. H. Lawrence zu »Lady Chatterley’s Lover« wird. Seine Lady Chatterley ist 34 Jahre alt, und er hat sie nach kurzer, kaum fünfwöchiger Affäre aus England entführt. Ihr Name ist eigentlich Frieda von Richthofen – nun heißt sie Weekley, doch ihr Mann, Professor an der Universität von Nottingham und Lehrer von Lawrence, kann weder ihren preußischen Adel noch ihr Temperament bändigen. Dem 27 -jährigen Bergmannssohn Lawrence, der gerade sein Manuskript für »Söhne und Liebhaber« beim Verlag abgegeben hat, aber imponiert, dass sie »die Tochter eines Barons ist aus dem uralten und berühmten Geschlecht derer von Richthofen«. Frieda ist grünäugig, intelligent, blond und dem Leben zugetan. Sie glaubt, das Paradies könne auf Erden nur durch freie Liebe verwirklicht werden. Lawrence nimmt sie beim Wort und flieht mit ihr von der Insel nach Europa. Im Frühling 1913 finden sie Unterschlupf im Liebesnest von Friedas
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