1913
Schiffe, den Norden, die Marine. Das Schönste an den ganzen Kolonien war für ihn, dass man dort nur mit Schiffen hingelangen konnte. Selbst als er zur Auerhahnjagd im hessischen Mittelgebirge war, bei seiner Geliebten, der Gräfin Görtz, da ritzte er nachts, bevor das Horn die Jäger rief, schwermütig kleine Kriegsschiffe in das Holz der Jagdhütte.
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In Berlin gibt es 1913 schon über 200 Kinos. In den meisten laufen die Produktionen aus den im letzten Jahr gegründeten Filmstudios in Babelsberg, so etwa Asta Nielsens Film »Sünden der Väter«. Der Film erzählt die Geschichte einer Malermuse, die ihrem bewunderten, väterlichen Helden immer wieder Modell steht für Allegorien der Schönheit. Dann verlässt er sie, und sie wird Alkoholikerin. Der Maler trifft sie wieder, ist fasziniert, doch erkennt sie nicht. Er bittet sie in sein Atelier, er will eine Allegorie der Trunksucht malen, die sein Meisterwerk werden soll. Sie wird sein Meisterwerk. Doch als die Muse sieht, dass sie, ihre Liebe und ihre Schönheit auf dem Altar der Kunst und der Karriere geopfert worden sind, zerstört sie in einem einzigartigen Akt des Aufbegehrens die Leinwand. Asta Nielsens Wutausbruch macht ihr Gesicht zur bewunderten Ikone.
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Als die Überlebenden der Terra-Nova-Expedition im Juni 1913 wieder in ihrem Heimatland eintreffen, wird den wissenschaftlichen Errungenschaften des Korps viel Aufmerksamkeit zuteil. Man will davon ablenken, dass der zum Nationalhelden erhobene Scott in Wahrheit nur Zweiter am Südpol geworden ist. Als die letzten Teilnehmer der Expedition endlich 1912 den Südpol erreichten, prangte dort die frisch aufgestellte norwegische Flagge. Roald Amundsen war ein paar Tage schneller gewesen bei diesem unbarmherzigen Wettlauf gegen das Eis und die Zeit. Das brach die Moral der britischen Expeditionsteilnehmer. Nicht nur Scott starb auf der Rückkehr im ewigen Eis, auch Captain Lawrence Oates. Bis heute wird er in Großbritannien als Märtyrer verehrt, da er den Freitod suchte, um seinen vier Kameraden nicht weiter zur Last zu fallen. Seine letzten Worte beim Verlassen des Zeltes sind legendär: »Ich gehe nur mal raus und könnte etwas länger brauchen.« Mit so einem Satz wird man in England unsterblich. Nicht schlecht auch der Titel von Cherry Garrards bald legendärem Bericht über den katastrophalen Expeditionsverlauf: »The Worst Journey in the World«. So hatten die Briten zwar nicht den Südpol entdeckt, aber zumindest ihren Humor nicht verloren.
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»The Worst Heiratsantrag in the World«: Am 8 . Juni hatte Franz Kafka in Prag damit begonnen, nun endlich Felice um ihre Hand zu bitten. Doch er bricht mitten im Satz ab, erst am 16 . Juni kann er sich aufraffen, den Brief abzuschließen. Er wird am Ende über zwanzig Seiten lang. Kafka beginnt mit ausführlichen Erläuterungen, dass er einen Arzt aufsuchen müsse – was der genau bescheinigen soll, also Zeugungsfähigkeit, geistige Klarheit oder ob das alles nur ein gesuchter Vorwand ist, um das Unausweichliche, die Heirat, den ehelichen Vollzug hinauszuzögern, ist unklar: »Zwischen mir und Dir steht von allem andern abgesehn der Arzt. Was er sagen wird ist zweifelhaft, bei solchen Entscheidungen entscheidet nicht so sehr medicinische Diagnose, wäre es so, dann stünde es nicht dafür, sie in Anspruch zu nehmen. Ich war wie gesagt nicht eigentlich krank, bin es aber doch.« Hm. Dann folgt eine Passage, in der Kafka, dieser wunderbare, einfühlsame Stilist, eine Form des schriftlichen Stotterns etabliert: »Nun bedenke, Felice, angesichts dieser Unsicherheit läßt sich schwer das Wort hervorbringen und es muß sich auch sonderbar anhören. Es ist eben zu bald, um es zu sagen. Nachher aber ist es doch auch wieder zu spät, dann ist keine Zeit mehr zur Besprechung solcher Dinge, wie Du sie in Deinem letzten Brief erwähnst. Aber zu langem Zögern ist nicht mehr Zeit, wenigstens fühle ich das so, und deshalb frage ich also: Willst Du unter der obigen, leider nicht zu beseitigenden Voraussetzung überlegen, ob Du meine Frau werden willst? Willst Du das?«. Das soll wohl heißen: Willst Du das wirklich?????? Und statt eines Fragezeichens hätte er wohl gerne mindestens fünf gesetzt.
Sodann legt er Felice in einem seltenen Moment der Klarheit die Kosten-Nutzen-Rechnung einer Heirat vor: »Nun bedenke, Felice, welche Veränderung durch eine Ehe mit uns vorginge, was jeder verlieren und jeder gewinnen würde. Ich würde meine meistens schreckliche
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