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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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München studiert hat, dann spürt man an dem Gelb der Häuser und der Weite der Straßen, dass die ganze Metaphysik in der Kunst dieses skurrilen in Griechenland geborenen Italieners eine rein münchnerische Angelegenheit ist. So kam die klassizistische Architektur Leo von Klenzes zwischen Hofgarten und Wittelsbacherplatz 1913 mitten in der Moderne an. Böcklin und Klinger waren de Chiricos künstlerische, Schopenhauer und Nietzsche seine geistigen Väter – und sie braucht de Chirico für seine Studien der Einsamkeit des einsamen Menschen nicht mehr. Denn das ist der Betrachter selbst, der unweigerlich hineingezogen wird in die Sinnlosigkeit des neuen Jahrhunderts. Oder wie es de Chirico selbst sagt: »Die Kunst wurde durch die modernen Philosophen und Dichter befreit. Nietzsche und Schopenhauer lehrten als erste die tiefe Bedeutung des Nicht Sinns des Lebens und wie dieser Nicht Sinn verwandelt werden könnte in Kunst. Die guten neuen Künstler sind Philosophen, welche die Philosophie überwunden haben.« Deshalb führt de Chirico die Perspektive, das Symbol der Orientierung, ad absurdum. Und wird genau dadurch zu einer schnell in Paris, Berlin und Mailand verehrten Orientierungsfigur auf einem zunehmend schwankenden Untergrund.
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    Ab dem 16 . Juli macht Egon Schiele Urlaub bei seinem Mäzen und Förderer Arthur Roessler im Haus Gaigg in Altmünster am Traunsee. Angekündigt hat er sich in einem langen Brief – er komme entweder um 3 oder um 4 oder um 5 oder um 6 . Er kommt aber nicht. Und sein Gastgeber geht die halbe Stunde vom Bahnhof zurück in sein Haus, friert, trinkt Tee mit Rum und dann Rum mit Tee. Es gießt in Strömen. Irgendwann klopft Schiele an die Terrassentür – er ist zu einer anderen Uhrzeit und aus einer anderen Richtung gekommen. Und auch nicht allein, sondern mit Wally Neuzil, die wir heute von dem großartigen Aquarell »Wally mit roter Bluse« kennen – aber damals kannte niemand sie.
    Am nächsten Morgen soll das Gepäck vom Bahnhof geholt werden. Roessler fragt ihn, was es denn genau sei. Darauf Schiele: Nur das Notwendigste. Dann werden am Bahnhof abgeholt: Ein bisschen Kleidung, gesprungene Tonkrüge, farbig glasierte Bauernschüsseln, dicke Folianten, Kunstbücher, primitive Holzpuppen, Baumstrünke, Mal- und Zeichengeräte, ein Kruzifix. Das alles baut Schiele zur Inspiration im Gästezimmer auf, um zu arbeiten. Er arbeitet dann aber: keine Minute. Viel lieber wandert er durch die herrliche Landschaft des Salzkammergutes. Genießt das Zusammensein mit seiner Freundin und das Versorgtwerden durch das Personal Roesslers. Sein Gastgeber hat gehofft, dass Schiele malen würde und er eines der Gemälde für das Wohnzimmer des Sommerhauses nutzen könne. Doch Schiele malt einfach nicht. Eines Morgens betritt Roessler Schieles Zimmer und sieht, wie Schiele auf dem Boden sitzt und eine durch Stahlfederkraft betriebene kleine Spielzeug-Eisenbahn ihre Kreise ziehen lässt. Schiele macht Gleiswechsel, kuppelt an und ab mit großen Lautimitationen. Perfekt kann er das Pfeifen der Eisenbahnen nachmachen, das Kuppeln, das Rangieren, das Quietschen. Er bittet Roessler, doch mitzuspielen. Jemand müsse an dem kleinen Bahnhof die Durchsagen machen.
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    Die Londoner »Times« berichtet, dass sich der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand schmollend in sein böhmisches Schloss bei Konopischt zurückgezogen habe und dort auf dem Fußboden im Kinderzimmer liege. Jedem Gast, der zu Besuch kommt, befiehlt er, sich auf den Boden zu legen und ihm beim Aufbau weiterer Gleise behilflich zu sein. Angeblich hat der Kaiser längst Psychiater in Lakaiengewänder gesteckt, damit sie unauffällig Franz Ferdinand beobachten und betreuen können. Franz Ferdinand versteckt sich den ganzen Sommer über in seinem Schloss, er will weit weg sein von Wien – dem merkwürdigen alten Kaiser und vor allem von dem Chef des Generalstabes, Conrad von Hötzendorf, der die ganze Zeit versucht, einen Präventivschlag gegen Serbien durchzuführen.
    Franz Ferdinand kann auch nicht länger die Schmähungen des Hofes ertragen. Dort waren alle gegen seine Verbindung mit Sophie Gräfin Chotek gewesen, weil sie unter seiner Würde und natürlich seinem Stand war. Der Hof willigte erst ein, nachdem Frau und Kinder auf alle ihre Ansprüche verzichtet hatten. So war Sophie verurteilt zu einer Schattenexistenz, sie bekam zwar drei Kinder von Franz Ferdinand, aber in Wien wurde sie gemieden, es war ihr sogar verwehrt,

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