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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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in der Kaiserloge des Burgtheaters oder der Hofoper neben ihrem Mann zu sitzen. Nicht verwehrt wurden ihr die gemeinsamen Spaziergänge rund um Schloss Konopischt. Ihren gemeinsamen Lieblingsweg hatte ihr Mann darum früh in »Oberer Kreuzweg« umbenannt. Mit seiner Frau Sophie und den drei Kindern aber ist Franz Ferdinand offenbar das, was man glücklich nennt. Weil er in Wien eigentlich nicht gebraucht wird, ist der Erzherzog, der in der Hauptstadt als jähzorniger, unkontrollierbarer Machtpolitiker gilt, ein liebevoller Ehemann und Vater. Er spielt stundenlang mit seinen Kindern in den Gärten des böhmischen Schlosses, und es ist seine schönste Freude, wenn sie alle Namen der Blumen wissen, die in Sommerüppigkeit über die Buchsbaumumrandungen wachsen. Nebenan, im Schloss von Janowitz, trauert Sidonie Nádherný.
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    Picasso war schwer krank. Aber am 22 . Juli schreibt Eva Gouel an Gertrude Stein: »Pablo ist wieder fast ganz gesund. Er steht jeden Tag am Nachmittag auf. Henri Matisse kommt immer wieder vorbei, um nach ihm zu fragen. Heute kam er, um Pablo Blumen zu bringen, und war den ganzen Nachmittag bei uns.« Was für eine wunderschöne und tröstliche Vorstellung, dass einer der beiden wichtigsten Künstler seiner Zeit dem anderen wichtigsten Künstler seiner Zeit einen Krankenbesuch macht und einen Strauß Blumen mitbringt. Kein Wunder, dass Picasso ein paar Tage später wieder vollständig genesen ist.
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    Robert Musil ist nicht schwer krank, wird aber krankgeschrieben, damit er nicht seinen Bibliotheksdienst in der Technischen Hochschule in Wien erfüllen muss, sondern Zeit hat zu schreiben. Am 28 . Juli also schreibt Dr. Pötzl ein neues Gutachten für Musil, der mit »schwerer Neurasthenie« seit einem halben Jahr in seiner Behandlung ist (wir erinnern uns). Pötzl also schreibt: »Der hohe Grad der immer noch bestehenden nervösen Erschöpfung erfordert eine weit längere, als die ursprünglich angenommene Erholungsfrist, es muss vom nervenärztlichen Standpunkt aus heute unbedingt eine noch mindestens sechs Monate dauernde Sistierung der Berufsthätigkeit für den Patienten verlangt werden.« Und so schreibt Musil unter Verweis auf das Gutachten, er bitte »um einen Urlaub in der Dauer von sechs Monaten«. Die Universität schickt ihn zum Amtsarzt, und ein Dr. Blanka stellt fest: »Er leidet an allgemeiner Neurasthenie schweren Grades unter Mitbeteiligung des Herzens (Herzneurose).« Neurasthenie unter Mitbeteiligung des Herzens – schöner lässt sich das Leiden an der Moderne nicht zusammenfassen.
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    Harry Graf Kessler war Ende Juni aus Paris nach Berlin gereist, um in Potsdam mit seinem alten Regiment eine große Wehrübung zu machen. Das ließ sich der große Ästhet ohne Murren gefallen. Er liebte das Leben im Kasino und im adligen Offizierkorps in Potsdam, er liebte die Soireen und Soupers, die die Manöver begleiteten. So ist er im Juli bei der Prinzessin Stolberg in Potsdam, die ihm aber gesteht, »auf einer waldumgebenen Burg aufgewachsen«, leider noch immer nicht in der Lage zu sein, die verschiedenen preußischen Uniformen zu unterscheiden. »Ich sagte: Na, einen Husaren und einen Garde du Corps könne sie doch gewiss auseinanderhalten. Ja, meinte sie, es sei aber so schrecklich schwer, einen General von einem Unteroffizier zu unterscheiden.« Kessler lässt das so stehen, damit wir begreifen, wie ungeheuerlich es ist, dass es in Preußen anno 1913 also tatsächlich noch eine Prinzessin gab, die einen General nicht von einem Unteroffizier unterscheiden kann.
    Einige jener, denen sehr bewusst ist, wo ihre Unterschiede liegen, geistig, moralisch und in der Uniform, fuhren mit Kessler am 25 . Juli, als es endlich einmal nicht regnete, raus an den Sacrower See. Genauer: Die Herren Major Friedrich Graf von Klinkowström, seit 1905 im 3 . Garde-Ulanen-Regiment, geboren 1884 , Leutnant Thilo von Trotha, geboren 1882 , ebenfalls im 3 . Garde-Ulanen-Regiment, und der Rittmeister Eberhard Freiherr von Esebeck. »Als wir an die Badestelle, eine einsame, von Wald umsäumte Wiese kamen, wo wir baden wollten, stieg plötzlich vor uns aus dem See und Schilf splitternackt Krosigk empor.« Der Graf Friedel von Krosigk machte nachher mit den Herren von Trotha und von Esebeck nackt ein Wettrennen auf der Wiese. »Schräg hinüber, am anderen Ufer eine weiße Gestalt, die auch badete.« Die weiße Gestalt. Wer das wohl war? Die Prinzessin Stolberg, die die Unterschiede zwischen Generälen und

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