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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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Einsamkeit verlieren und Dich gewinnen, die ich über allen Menschen liebe. Du aber würdest Dein bisheriges Leben verlieren, in dem Du fast gänzlich zufrieden warst. Du würdest Berlin verlieren, das Bureau, das Dich freut, die Freundinnen, die kleinen Vergnügungen, die Aussicht, einen gesunden, lustigen, guten Mann zu heiraten, schöne, gesunde Kinder zu bekommen, nach denen Du Dich, wenn Du es nur überlegst, geradezu sehnst. Anstelle dieses gar nicht abzuschätzenden Verlustes würdest Du einen kranken, schwachen, ungeselligen, schweigsamen, traurigen, steifen, fast hoffnungslosen Menschen gewinnen.« Wer würde da nicht gerne sofort Ja sagen? Ein Heiratsantrag als Offenbarungseid.
    Kafka ist dennoch unwohl, weil er ahnt, dass er sich damit weit vorgewagt hat, auch wenn er mit Aberhunderten von Worten seine Frage eigentlich zu übertünchen, zu überdecken versucht. Aber er weiß doch, irgendwo in der Mitte des Briefes hatte er Felice tatsächlich gefragt. Er druckst herum, steckt den Brief dann in einen Umschlag, muss erst mühsam einen größeren Umschlag finden, weil der Brief so dick geworden ist. Dann geht er auf die Straße, ist unentschieden, wartet zu lange, bis alle offiziellen Poststellen geschlossen sind. Da plötzlich überkommt es ihn, und er will, dass Felice den Brief am nächsten Morgen auf ihrem Tisch haben soll, er rennt zum Bahnhof, wo man dem Schnellzug nach Berlin noch eilige Post zustecken kann. Auf dem Weg, schwitzend und panisch, trifft er einen alten Bekannten. Kafka versucht sich zu entschuldigen, er sei in Eile, der Brief müsse zur Bahn. Was das denn für ein besonderer Brief sei, den er da einwerfen müsse, fragt der Bekannte amüsiert. »Ein Heiratsantrag«, sagt Kafka, unter Gelächter.
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    Am 8 . Juni, dem Tag, an dem Kafka seinen Heiratsantrag beginnt, wird im Beisein von Kaiser Wilhelm II . das für die Olympischen Spiele von 1916 gebaute Deutsche Stadion eingeweiht. Die deutschen Bauarbeiter waren drei Jahre früher als geplant fertig geworden. War früher doch alles besser?
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    Zum 25 -jährigen Thronjubiläum schreibt der 15 -jährige Bertolt Brecht in sein Tagebuch die folgenden Verse: »Und wenn am Abend wir sinken / u. sterben den Heldentod, / dann soll uns tröstend winken / die Fahne schwarz-weiß-rot.« Und noch eine Strophe: »Der Wind soll in ihr singen: / Du hast deine Pflicht getan! / Du starbst im Kampf u. Ringen / als treuer, deutscher Mann.« Interessant.
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    In Wuppertal-Elberfeld hängen schon 1913 fünf Bilder von Picasso an den Wänden. Zwei Stillleben von 1907 bei dem Maler Adolf Erbslöh, eine »Mutter und Kind« von 1901 bei Julius Schmits sowie ein »Mann im Mantel« aus dem selben Jahr und ein Aquarell aus der Rosa Periode bei dem Bankier August von der Heydt.
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    Rosenkrieg in zwei Wiener Ehen. Zwischen Arthur und Olga Schnitzler fliegen die Fetzen, seinem Tagebuch vertraut Schnitzler an, dass er wie gelähmt auf dem Balkon liege. Und Robert Musil schreibt am 10 . Juni nach einem fürchterlichen Spaziergang mit seiner Frau: »Martha, schlecht disponiert, machte mir unnötige Vorwürfe, die mich erkälteten. Du wirst von mir weggehn. Ich habe dann niemand. Ich werde mich töten. Ich werde von Dir weggehn.« Sie ging nicht.
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    Es ging aber: Leo Stein. Nach monatelangem Streit verließ er die Wohnung in der Rue des Fleurs 27 , die er gemeinsam mit seiner Schwester Gertrude in Paris bewohnte und zu dem zentralen Salon der Avantgarde gemacht hatte. Hier gingen Picasso und Matisse und Braque ein und aus, der Jour fixe am Samstagabend war eine Zentralversammlung der Pariser Kreativität. Vor allem aber: Der Salon war über die Jahre zum ersten Museum of Modern Art der Welt geworden. Auf engstem Raum drängten sich Meisterwerke von Picasso, Matisse, Cézanne, Gauguin und allen anderen großen französischen Meistern, die die Steins früh und mit sehr gutem Auge zusammengetragen hatten. Gertrude, wie immer in eine Art braunes Sackleinen gekleidet, saß in einem dunklen Renaissancestuhl und hatte ihre Füße in der Nähe des Kamins; ihr war, wie immer, kalt. Daneben stand ihr Bruder Leo und erklärte den Dutzenden und Aberdutzenden von Gästen sein Verständnis von moderner Kunst. Die Gäste: Englische Aristokraten, deutsche Studenten, ungarische Maler, französische Intellektuelle und irgendwo Picasso mit seiner aktuellen Geliebten.
    Dann aber kommt es zum Eklat. Leo Stein kann die kubistischen Vorlieben seiner Schwester nicht länger

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