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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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ertragen – und auch nicht, dass sie Alice Toklas, die mit ihnen zusammenwohnt, offenbar nicht nur als Köchin, Lektorin und Sekretärin ansieht, sondern auch als Geliebte. Das ist Leo Stein alles fremd. Er nimmt die schönsten Renoirs, Cézannes, Gauguins und flieht aus Paris ins gelobte Land, lässt sich nieder in der Nähe von Florenz. An die kahlen Stellen hängt Gertrude Stein sofort kubistische Gemälde von Picasso, Georges Braque und Juan Gris aus den Jahren 1912 und 1913 . Und an die Stelle von Leo Stein bei den samstagabendlichen Salons tritt nun Alice Toklas. Die Geschwister, deren gemeinsame Kraft zu der wichtigsten Sammlung moderner Kunst geführt hat, die je in so kurzer Zeit zusammengetragen wurde, sprachen nie wieder ein Wort miteinander. Immer wieder sendet Leo Versöhnungsangebote aus Florenz. Aber Gertrude antwortet nicht. Später versucht sie die Trennung auf die Weise zu verarbeiten, wie Intellektuelle eben Dinge zu bewältigen versuchen, die sie seelisch überfordern. Sie schreibt ein Buch darüber. Sie nennt es »Two: Gertrude Stein and her brother«. Und sie glaubt, dadurch ihre Eigenständigkeit schwarz auf weiß beweisen zu können. Aber natürlich bewies sie dadurch vor allem, dass auch sie die Trennung von ihrem Bruder nie bewältigt hatte.
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    In der Juniausgabe der »Neuen Rundschau« erscheint ein Text des 25 -jährigen Autors und Mann-Jüngers Bruno Frank. Thema »Thomas Mann – eine Betrachtung nach ›Der Tod in Venedig‹«. Darin neben schöner, ausführlicher Interpretation der Novelle vor allem diese ungeheuren Zeilen der Gegenwartsdiagnostik: »Als es noch eine Metaphysik gab, war es vergleichsweise wenig, ein Held zu sein. Aber nun, da fühlloser Felsboden unter uns ist und über uns ein leerer Himmel, da wir vom Glauben nichts mehr haben als einen Hunger nach ihm, da wir so beziehungslos sind und völlig auf uns selber zurückgeworfen, wie vermutlich niemals menschliche Generationen vor uns waren, in diesem Moment also erscheint Thomas Mann und stellt sich dieser Dichter wach und tapfer in die völlig götterlose Welt.« Naja. Gustav von Aschenbach als der letzte Heldentod in der Moderne.
    Am 16 . Juni reist dieser wache und tapfere Dichter mit seiner Frau Katia, die gerade von einer weiteren Kur zurückgekehrt ist, zu einer dreiwöchigen Ferienreise nach Viareggio an der toskanischen Küste. Dort, im Hotel Regina, legt er den »Felix Krull«, an dem er sich gerade abmüht, zur Seite und beginnt tatsächlich mit der Arbeit am »Zauberberg«, was ihm in Bad Tölz nicht zu gelingen schien. Nur an der See hat man freien Blick auf die Seele – und auf die Berge davor.

JULI
    Urlaub! Egon Schiele und Franz Ferdinand, der österreichische Thronfolger, spielen mit der Modelleisenbahn. Die preußischen Offiziere baden nackt im Sacrower See. Frank Wedekind fährt nach Rom, Lovis Corinth und Käthe Kollwitz fahren nach Tirol (aber in getrennte Hotels). Alma Mahler flüchtet nach Marienbad, weil Oskar Kokoschka das Aufgebot bestellt hat. Der tröstet sich und säuft mit Georg Trakl. Dauerregen. Alle werden halb wahnsinnig in ihren Hotelzimmern. Aber immerhin: Matisse bringt Picasso einen Blumenstrauß.

    Am 10 . Juli wird im Death Valley in Kalifornien die höchste bis dahin dokumentierte Temperatur gemessen: 56 , 7 Grad. Am 10 . Juli regnet es in Deutschland. Es ist kaum 11 Grad warm.
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    In diesem Juli kommen sich in Bonn August Macke und Max Ernst, sein jugendlicher Bewunderer, freundschaftlich näher. Macke nutzt sogar ein Heft mit ein paar Vorlesungsmitschriften von Ernst als Skizzenbuch, gemeinsam organisieren sie eine Ausstellung »Rheinischer Expressionisten«, die sie mangels passender Galerie am 10 . Juli in der Bonner Buchhandlung Cohen eröffnen. Aus dem Fenster des Ladens im ersten Stock hängt ein riesiges Plakat, das die teilnehmenden Künstler gemeinsam beschriftet haben. Max Ernst sorgt auch gleich für das nötige Echo: Unter Pseudonym schreibt er eine Rezension im Bonner »Volksmund« und rühmt vor allem die Kunst seines Freundes Macke, dessen Abstraktionen »Ausdruck für ein Seelisches geben allein durch die Form«. So kämpfen 1913 alle allerorten um das Unbewusste.
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    Das Psychologische, das Transzendentale liegt in der Luft. Der Italiener Giorgio de Chirico malt 1913 seine erste richtige »metaphysische Landschaft«, wie sie Guillaume Apollinaire nennt. Sie heißt »Piazza d’Italia« und zeigt: die Leere. Wenn man weiß, dass de Chirico lange in

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