1913
des Wortes.« Der Avantgarde wird empfohlen: »Futuristen, senkt Euer Haupt!«. Else Lasker-Schüler kommt ins Museum, sinkt auf die Knie vor Begeisterung, ihre Bilder des Prinzen Jussuf tragen bald die Züge von Amenophis IV ., auch Echnaton genannt. Und das größte Wunder, der Kopf der Nofretete, seiner Gemahlin, ruht sogar noch im Keller des Museums. Die Grabungsexpedition hat zunächst darauf verzichtet, ihr schönstes Stück auszustellen. Die Ausstellungsmacher ahnen, dass Ägypten sofort Besitzansprüche geltend machen würde, wenn alles zu sehen wäre, was da im Januar 1913 außer Landes geführt wurde. So ruhte Nofretete im Depot.
Wer tausend Jahre unter der ägyptischen Erde lag, der kann auch noch ein paar Jahre warten, bis ihm die Welt zu Füßen liegt.
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Es ist also Juli, alle erholen sich, Rilke hat das Ägypten-Fieber, ein bisschen Geld und nichts zu tun. Man könnte es folglich »naheliegend« nennen, dass er im August ein paar Tage Urlaub an der See machen will. Aber »Urlaub« klingt für jemanden, der sich tagtäglich vor allen, seinen Mäzenatinnen und seinen Über-Ichs, für seinen gepflegten Müßiggang rechtfertigen muss, wie ein böses Wort. So ist zu begreifen, dass es also Rilke »leichtsinnig« (!) erscheint, im August an die Küste zu fahren. Er verlässt Lou in Göttingen und schreibt ihr dann sofort aus Leipzig: »Ich habe die leichtsinnige Idee, von hier Ende der Woche erst für acht Tage an die See zu gehen (Heiligendamm, wo Nostitzens sind). Schöne Buchenwälder sollen dort sein, und mir ist auf einmal das Meer vor der Seele. Vielleicht tue ich also dies.«
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Frank Wedekind ist in Rom, er schließt dort am 8 . Juli seinen »Simson« ab, den er am 26 . Januar angefangen hatte. Er ist nach Rom gereist, um allein zu sein und sich zu erholen von den Wirren um das Verbot seines Theaterstücks »Lulu«. Eine Nymphomanin, die die Männerwelt zerstört, das durfte nicht sein. Doch Wedekind ahnt, dass er mit seiner »Lulu« eine neue Heldin für das 20 . Jahrhundert geschaffen hat. Er tröstet sich mit den Helden der Vergangenheit über die Schmach der Gegenwart – und liest in Rom Goethes »Italienische Reise«, Burckhardts »Kultur der Renaissance in Italien«, besichtigt die Sixtinische Kapelle. Die Zensurbehörde in München hätte sich verwundert die Augen gerieben über die großbürgerlichen Ambitionen dieses Unruhestifters. So schreibt er an seine Frau Tilly Wedekind: »Das Schönste, was ich hier bis jetzt erlebt, war der Spaziergang auf den Ruinen des Monte Palatino.« Aber dann warnte er sie: Rom sei vollkommen eingeschlafen, kein Theater, kein Varieté. »Für meine Zwecke kann ich mir Rom gar nicht besser wünschen. Wenn wir uns zusammen ein Vergnügen machen wollen, dann tun wir wohl besser daran, nach Paris zu fahren.« Denn das müsse man, gerade aus Rom, ein für allemal klarstellen: »Paris ist die schönste Stadt der Welt, dann kommt Rom, dann sehr bald München.«
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Lovis Corinth sitzt in der »Villa Mondschein« in Tirol, mit Kindern, Frau und Mutter. Noch immer ist er nicht ganz genesen von seinem Schlaganfall, aber hier in Sankt Ulrich im Grödnertal geht es ihm langsam besser. Es regnet so stark, dass Corinth kaum draußen malen kann. Darum muss die Familie Porträt stehen. Erst malt er sich selbst, in landesüblicher Tracht, der grünkarierten Leinenjoppe und dem federgeschmückten Hut (er sieht schon wieder fröhlich brummig aus). Dann seine Frau Charlotte, ebenfalls als Tirolerin. Er packt die Farbe dick auf die Leinwand, als wolle er demonstrieren, dass er wieder am Leben ist. Und wenn draußen die Welt im Nebel und Regen versinkt, dann holt er das Grün und Rot und Leuchten eben mit den Farben der Trachten in seine Kunst. Sohn Thomas will nicht gemalt werden, er friert und liegt bald mit einer Grippe im Pensionsbett.
Die allmorgendliche Post aus Berlin empfängt Corinth »wie das Manna in der Wüste«. Meist geht es in all den Briefen um den großen Streit in der Berliner Secession, der tobt, seit Paul Cassirer, der Händler, zum Vorsitzenden gewählt worden ist. Für die nächste Ausstellung hat der alle dreizehn Künstler ausgeladen, die ihn nicht gewählt hatten, woraufhin es zu einem großen Zerwürfnis kam. Nun gehört den übriggebliebenen Secessionisten um Corinth zwar der Verein, die »GmbH« aber, die Eigentümerin des Ausstellungshauses am Kurfürstendamm 208 / 09 ist, wird von Cassirer und Liebermann kontrolliert. So muss also der
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