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192 - Nah und doch so fern

192 - Nah und doch so fern

Titel: 192 - Nah und doch so fern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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verlassen. Nur das Lagerfeuer brannte noch. Grao’sil’aana konnte von der Strickleiter aus Daa’tans Schwert sehen; es steckte im Boden hinter Yangingoos verwaistem Platz, gleich neben der riesigen Owomba-Kralle. Nuntimor glänzte im Flammenschein, und der Rubin an seinem Griff leuchtete rot wie Blut.
    Grao’sil’aana sprang die letzten drei Stufen hinunter, wischte sich die Hände ab. Er wusste, wo Taranays Familie schlief. Dort wollte er hin, möglichst nahe an den Jungen heran, um ihn mental gegen Warnambis Hetzkampagnen zu wappnen.
    Etwas schabte wie nackte Füße auf harter Erde. Viele Füße.
    Grao’sil’aana drehte sich um – verwundert, ahnungslos – und prallte zurück. In sämtlichen Höhleneingängen standen die Mandori, der ganze Clan, Männer in erster Reihe. Sie hatten ihre Gesichter bemalt, und sie trugen Waffen.
    »Was ist los?«, fragte er, während er fieberhaft überlegte, ob ihn etwas verraten hatte.
    Auf Daa’tan kam er nicht.
    Umso heißer war der Schreck, als Yangingoo den blinden Schamanen vor sich zog und Warnambi laut intonierte: »Du hast einen Mann unter der Akazie vergraben, der tot sein müsste und es nicht ist!« Er zeigte mit dem Finger Richtung Grao’sil’aana, machte einen Schritt nach vorn. Die Mandori folgten ihm. »Du besitzt einen Rochen, der so groß ist wie der Fluss und fliegen kann, was ein Fisch nicht können darf. «
    Wieder trat Warnambi vor, und die Reihen der Männer mit ihm. Speere schwankten.
    Grao’sil’aana sah sich um: Wie weit war das Schwert entfernt? Zu weit! Die Mandori verteilten sich bereits, da konnte er Nuntimor nicht mehr erreichen. Er konzentrierte sich auf Yangingoo, befahl ihm mental, den Schamanen wegzuführen. Doch Warnambi musste erkannt haben, welche Fähigkeiten Grao Wongh-nga besaß, denn kaum bewegte sich Yangingoo, da stieß der Blinde ihn fort, und ein anderer Mandori nahm den Platz des Anführers ein. Schritt für Schritt kam Warnambi heran, mit tödlichen Waffen im Gefolge.
    »Du hast uns vorgelogen, du hättest den Owomba getötet!«
    Noch ein Schritt. Grao’sil’aana wich zurück, spürte die Strickleiter an seinem Rücken.
    »Du hast ein Owomba-Weibchen erfunden, damit wir nachts in den Höhlen bleiben und nicht sehen, was du mit dem Untoten machst.«
    Noch ein Schritt. Die Speere ringsum senkten sich, zielten auf Grao’sil’aana.
    »Wer bist du?«, fragte der Schamane.
    Grao’sil’aana hob abwehrend die Hände. »Hört zu, ich kann das erklären. Sagt mir nur, was…«
    »Wer bist du?« Warnambis Stimme bebte vor Hass.
    »… was habt ihr mit dem Toten gemacht?«
    Warnambi streckte die knochigen Finger aus. Seine blinden, weißen Augen zogen sich zusammen, und er schrie: »Wer bist du?«
    Und plötzlich, ganz unvermittelt, hatte Grao’sil’aana genug.
    Gab es irgendeine wie auch immer geartete Verpflichtung, sich vor Primärrassenvertretern zu rechtfertigen?
    »Ich bin ein Daa’mure!« sagte Grao’sil’aana kalt – und gab seine Tarnung auf.
    Atemlose, geschockte Stille. Dann regneten Speere zu Boden, warfen sich die Mandori herum und flohen. Sie drängten sich vor den Höhlengängen; jeder wollte der Erste sein. Nur der blinde Schamane stand noch da, tastete hilflos mit den Händen durch seine ewige Nacht.
    Grao’sil’aana ging mitten durch den Tumult zu Yangingoos Platz, ergriff das Schwert und riss es aus dem Boden. Er zögerte, als sein Blick auf Warnambi fiel. Doch er verzichtete darauf, ihn zu töten. Wortlos kehrte er zur Strickleiter zurück und machte sich an den Aufstieg.
    Draußen stolperte Grao’sil’aana mehr, als dass er lief. Seine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, und die Sorge um Daa’tan okkupierte seine Gedanken. Fast wäre er in das Loch gefallen. Das leere Loch unter dem Baum!
    »Daa’tan?«, fragte er, sah sich nach allen Seiten um.
    Ein junger Mann trat aus dem Schatten ins Mondlicht; hoch gewachsen, kräftig, mit schulterlangem Haar.
    »Daa’tan! Du lebst!« Grao’sil’aana wollte seinen Schützling umarmen, doch der wich ihm aus.
    »Tu doch nicht so, als würdest du dich freuen!«, knurrte er mit dunkler Stimme. »Wenn ich dir wichtig wäre, hätte ich mich wohl kaum alleine befreien müssen, oder?«
    Er beugte sich vor, riss dem Daa’muren das Schwert aus der Hand. »Und belogen hast du mich auch! Hatte ich nicht verlangt, dass du mein Eigentum zusammen mit mir begräbst? Ich habe eine Ewigkeit nach Nuntimor gesucht!« Daa’tan runzelte die Stirn, wies an

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