1948 - Roman
Schirmmütze auf dem Kopf zurecht, und ehe er ging, wandte er sich um zu dem Zimmer meines Vaters mit all seinen deutschen Büchern und sagte zu ihm: Dein Junge wird jung sterben, aber aussehen tut er, wie dein schöner Großvater ausgesehen hat.
Der Mann lief flink die Treppen hinunter, und mein Vater blickte ihm nach. Ich war gebannt von dem Mann. Er war die einstürzende Statue eines toten Königs. Er war ein wandelnder Toter. Er war ein alter, bröckelnder Palast. Mein Vater ging sofort in sein Zimmer, und ich hörte ihnseine geliebte Monteverdi-Oper auf dem Grammophon spielen. Ich musste tagelang an den Mann denken, und mein Vater versuchte mich zu ignorieren. Schließlich fragte ich ihn, wer der Mann gewesen sei, und mein Vater fragte, wer? Ich sagte, was heißt, wer? Der Mann, der hier war, der Jiddisch mit dir gesprochen hat, den du geküsst hast, und mein Vater sah plötzlich verwirrt aus, als hätte sich eine Wolke in seinen Kopf gezwängt. Wer? Hier ist keiner gewesen, beharrte er und wirkte verlegen und ging »auf den Thron«, wie man damals sagte, und ich hörte unterdrücktes Schluchzen von dort.
Ich war damals ein Halbwüchsiger. Ein halber Mann von sechzehn Jahren. Solche Szenen hatte ich noch nie erlebt – das größte Spektakel, das ich bisher gesehen hatte, war »König Ödipus« im Habima-Theater unter der Regie von Tyrone Guthrie, während Lechi-Leute und Briten sich draußen einen Schusswechsel lieferten und unweit was explodierte –, und nun trauerte ich einer Naivität nach, die mir langsam abhandenkam, wie allen damals. Auf den Straßen sah man immer mehr erbärmliche Gestalten, wie den Mann, der bei meinem Vater gewesen war, gekleidet wie Fürsten, die betteln gingen. Die Stadt füllte sich mit menschlichen Wracks.
Ich machte mich auf die Suche nach ihnen, suchte den, den ich für einen Cousin meines Vaters Mosche gehalten hatte. Sie kamen zusammen und tuschelten miteinander, kauften und verkauften, und einer trug ein Bündel und rief »Fieberthermometer, Fieberthermometer billig«, und wenn man ihn fragte, wer braucht denn so was, sagte er, kauft es bloß, damit ihr’s nicht mal brauchen tut. Ich überlegte, wer der Mann gewesen sein mochte, der unser Haus aufgesucht hatte. Ich wollte ihn auf eigenen Schultern erneut nach Erez Israel tragen, ihm und seinesgleichen ein Volksheldsein. Mich beschlich zusehends das ungute Gefühl, dass nicht er Menschenstaub war, sondern ich. Ich trug Schuld, weil ich im Krieg, bei unseren Ausflügen nach Gedera, Sahne gelöffelt hatte, während sie starben. Ich erinnere mich, wie der Lehrer Zvi Katan einmal ärgerlich sagte, als seine Familie im Ghetto ausgelöscht wurde, habe die Wirtschaft hierzulande bestens floriert. Es gab zu essen. Es gab Geld. Alle trieben Handel mit den Engländern.
Ich begegnete damals einem Mann, der sich an mich hängte. Er sprach das antiquierte Hebräisch alter Übersetzungen, mit vielen Fremdwörtern wie »Gendarm« und »Poste« und »Piaster«. Er wollte mich aus einem DP-Camp bei Frankfurt kennen, und ich erklärte ihm, dass ich dort nie gewesen war. Er sagte, er erinnere sich sehr gut an meine Augen, könne sie gar nicht vergessen, weil ich bis aufs Haar seinem Jungen gliche, der an jenem verfluchten Ort gestorben sei, und wie könne ich es wagen, nichts zu wissen, wo sein Sohn doch tot sei? Wie denn, wo ich doch er sei? Ich sagte ihm, ich sei es nicht. Ich sei bloß ein beschissener Erez-Israeli, ein Sabre aus guter Familie, mein Vater sei Museumsdirektor, und während die Juden starben, habe er Kammerkonzerte veranstaltet und all seine Deutschen gespielt: Bach. Beethoven. Quartette. Sonaten. Und der Mann trat zu mir und umarmte mich und rief: Nicht den Tate vergessen, mein Kind. Und plötzlich richtete er sich auf und fing an zu rennen, und dann – ich schwöre es den treuen Lesern, die bis hierher durchgehalten haben – hob er ab in die Lüfte, oder so habe ich es in Erinnerung. Er schwebte über dem Mughrabi-Kino und berührte das Dach, das sich gerade auftat, und der dicke Jecke, der unten auf dem Platz, den man inzwischen gekillt hat, heiße Würstchen verkaufte, rief: Sag mir, wer besser ist, Goethe oder Shakespeare, und als ich »Goethe istbesser« sagte, gab er mir ein Würstchen, und ich flüchtete tief beschämt.
Ich ging in die Dünen. Wollte sie berühren, gegen den dicken Jecken, der die Würstchen am Mughrabi-Platz verkaufte, mit seinem und Vaters Goethe. Ich wollte ich sein, gerade für uns, die
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