1948 - Roman
hing. Ich sagte ihr, ich wolle was über ihre alte Besucherin erfahren. Sagte, ich hätte einen Mann gesehen, der mich für jemand anders hielt, und einer sei zu meinem Vater gekommen, vielleicht wirklich ein Cousin, aber mein Vater habe gesagt, er sei keiner, und ich wolle gern was wissen.
Frau Kremski lächelte. Du bist Sabre und möchtest was wissen? Sehr, bestätigte ich. Sie rief die alte Frau herbei. Die Alte blickte mich an und sagte, warum darum, und lächelte zahnlos. Frau Kremski erklärte ihr etwas auf Polnisch, und die alte Frau kam näher, betastete behutsam mein Gesicht und lachte. Es war kalt im Zimmer. Die Altesetzte sich gebeugt ans Fenster, über ihr funkelte ein starker Sonnenstrahl, der sie verzerrt erscheinen ließ. Frau Kremski sagte, die alte Frau wolle nicht mit mir reden, aber sie selbst erzählte mir ausführlich, wie die Alte geflohen und in die Gewalt eines Mannes geraten war, wie sie barfuß Schubkarren durch den Schnee geschoben hatte und eigentlich umgebracht werden sollte, aber dann doch gebraucht wurde, weil sie gut rechnen konnte. Die Alte lauschte mit geschlossenen Augen ihrer Lebensgeschichte, wie sie mir übermittelt wurde, und fing an, deutsche Zahlen herzusagen. Ich konnte ein wenig Deutsch, und sie addierte und subtrahierte große Summen und sagte, ja, ja, Gottenju ist schlafen gegangen , und SS hat mir ein Ohr abgerissen. Erzählte, wie ihre ganze Familie draufgegangen war. Wie das ganze Schtetl draufgegangen war. Und dann sagte sie zu Frau Kremski, ich verstände nicht, wovon sie rede, und Frau Kremski sagte ihr, ich verstände sehr wohl, und so saßen wir, bis mein Vater in Hausschuhen herunterkam, an die Tür klopfte und verärgert sagte, sie sollten mich nicht damit nerven, wer mehr gelitten habe.
Hier noch ein Stück Erinnerung. Ist mein Vater tatsächlich dort gewesen? Hat diese Geschichte etwas zu besagen? Ist das überhaupt wichtig? Ich habe sie fünfzigmal niedergeschrieben, seit ich 1949 auf der »Van York« anheuerte, damals, als wir Flüchtlinge aus Europa holten, sie in allen möglichen Löchern in Italien und Jugoslawien aufstöberten und sie uns anflehten, sie an Bord zu nehmen. Und wenn es wirklich und wahrhaftig keinen Platz mehr gab, kletterten sie an den Tauen hoch, um in diese Sardinendose namens »Van York« zu gelangen.
Eines Morgens arbeitete ich bei hoher See an Deck, kratzte Rost ab. Ein Trupp Passagiere kam aus der Hölleder Unterdecks hoch, um etwas zu essen und sich in die Schlange vor der Toilette einzureihen. Stundenlang standen sie an, das Schiff schlingerte, und ich sah eine Frau einen kleinen Taschenspiegel hervorziehen, den sie offenbar bei einem Kurzwarenhändler im Schiffsbauch gekauft hatte, denn die Leute kauften und verkauften, auch wenn sie wie Sardinen eingepfercht waren. Die Frau legte den Kopf zurück, schüttelte ihr Haar und drehte Locken um den Zeigefinger, lächelte sich im Spiegel an und wirkte froh inmitten dieses Infernos.
Nachts in Tel Aviv lag ich hilflos da. Ich besaß die Fähigkeit, etwas so lange in Gedanken zu wälzen, bis ich es durchdrungen hatte. Mir war nicht recht klar, was ich nicht wissen sollte. Ich stellte mir vor, mein Vater würde vom Dach stürzen, spürte den Aufschlag und den Schmerz und den Tod. Es war schwierig für mich, und ich dachte, es kann doch nicht angehen, dass die Juden kein Zuhause bekommen. 1945 war ja das Übergangsjahr gewesen, das Verbindungsjahr, das Jahr der Mitte zwischen der Zerstörung und dem, was damals wie unser großer Coup im Kampf gegen das jüdische Schicksal aussah. Jetzt lag das Kriegsende in Europa schon zwei Jahre zurück, und die Hoffnungen schlugen hohe Wellen. Wir wussten nicht genau, worauf sie zielten, fanden es aber gut, dass sie existierten.
4
An Chanukka 1946, dem letzten vor Ausbruch des Unabhängigkeitskriegs, herrschte strenger Winter. Es hagelte kübelweise, der Wind wehte stürmisch, in Jerusalem und Hebron lag Schnee, und wir erklommen den Massada-Felsen, um an die Schoa zu rühren, die uns nun greifbarer wurde. Vorher, in den schweren Jahren der Juden, hatten wir kaum was davon gewusst, waren hauptsächlich mit den Flügelkämpfen in der Arbeiterbewegung, zwischen Achdut Ha-Avoda und Mapai, beschäftigt gewesen und hatten kaum begriffen, was wir in den Zeitungen lasen.
Wir kletterten den holprigen Schlängelpfad zur Bergfeste hinauf und sahen kaum was, denn Finsternis lag über dem Abgrund Gottes, und erreichten schließlich den Gipfel. Der Berg war
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