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1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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schafft oder umgekehrt. Wir lasen Turgenjews Roman Rudin und veranstalteten einen großen Prozess, bei dem ich den Nihilismus gegen die liberalen Träume und Tendenzen seiner Zeit verteidigte. Vielleicht habe ich den Prozess gewonnen, obwohl ich meine, ihn eigentlich verloren zu haben, denn wer wollte damals schon eine nihilistische Revolution anstelle eines säkularen, hebräischen Staatswesens oder, richtiger, einer zionistisch-sozialistischen Revolution.
    Wir sangen das Lied »Der Vater von Katz / die Mutter von Katz / Mama, Mama, Mama, gib uns was zu trinken« und »Sie hat ein angeschraubtes Bein und einen Kopf auf Staken / und wenn sie abends schlafen geht, hängt sie den Kopf an den Haken«. Und alle besuchten mich gern, umvon unserem Balkon zuzugucken, wie Fräulein Gross sich auf dem Nachbarbalkon rasierte und durchs Fernglas aufs Meer spähte, um Berlin zu sehen. Sie sagte dann lächelnd, ihr habt’s gut, ihr seid Sabres, worauf wir erwiderten, wir hätten keine Stacheln, und dann lachte sie und sagte, aber ich hab welche, und wir sahen die Stoppeln auf ihren Wangen sprießen. Und wir lasen wieder und wieder Alexander Beks Roman Die Menschen von Panfilow , der unsere Bibel wurde, und die Erinnerungen des Hauses David in der Ausgabe des Jesreel-Verlags, über die Qual der Verbannung und die Wundertaten der Juden im Spanien des Goldenen Zeitalters. Und ich deklamierte Schmuel Ha-Nagid, was die Mädchen für mich einnahm: »Ich bin Gefangene eines Mannes / der an mir festsitzt wie mit Kleber. / Er tötet mich ohne Schwert / geht mir auf die Leber. / Und was mach ich, da Sisera kommt / und keine Jael, Frau des Heber? / Eile herbei, mich zu retten / wie Abraham den Schemeber.«

5
    Eines schönen Tages im Oktober 1947 war das Meer spiegelglatt, und wir gingen zu mehreren zur amerikanischen Bar am Herbert-Samuel-Platz, um ein Sundae Special am Meer zu essen. Plötzlich wurden wir von der Hassan-Bek-Moschee im Süden beschossen. Die Leute in der amerikanischen Bar versuchten sichtlich erschrocken zu orten, woher die Schüsse kamen. Meine Freunde waren offenbar geflüchtet, und ich erstarrte vor dem Grundstück, auf dem heute der Opern-Turm steht. Wieder hörte man Schüsse knallen, ich sah ein Fenster in die Brüche gehen, und im selben Moment kam ein Mann aus dem damaligen arabischen Viertel Manschije angerannt. Ein hebräischer Polizist, der den entsetzten Mann erblickte, rief: Das ist der Arabusch , der geschossen hat. Und dann lief er weg, um sich im Treppenhaus neben dem Fotoatelier von Dudi Henyo zu verstecken, der zwanzig Jahre lang Idioten ablichtete, die vor dem Hintergrund seiner hängenden Papierdschungel schön aussehen wollten. Aber fürs Gemüt fotografierte er zwanzig Jahre lang Sonnenuntergänge an ein und demselben Strand zur selben Stunde, und keine seiner Fotografien ist erhalten geblieben.
    Der Araber blieb wie angewurzelt stehen, und schon packte ihn eine Hünin mit zerzausten Haaren, die einen fast vollen Eisbecher wegwarf, um sich mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Sie spuckte ihn an und schrie auf Rumänisch, er werde im Leben nicht mehr vom Minarettder Hassan-Bek-Moschee schießen. Danach schrie sie dasselbe noch mal auf Deutsch, damit er es besser verstand. Ich wollte ihm helfen. Er weinte und flehte und beteuerte auf Hebräisch, er habe nicht geschossen, sei nur irrtümlich hineingeraten, und ich glaubte ihm, so elend und verwirrt und bedauernswert, wie er aussah, aber die andern wollten ihm nicht glauben. Sie hatten einen veritablen Feind in Händen. Noch mehr Passanten kamen dazu, warfen ihr Eis auf den Gehsteig und fingen an, den Araber zu schlagen und zu treten. Er wimmerte, und sie verprügelten ihn wegen all dem, was er ihnen in der Diaspora angetan hatte. Ich versuchte, mich schützend auf ihn zu legen, merkte, wie er zitterte und zappelte und aus der Nase blutete, erntete aber nun selber Schläge und Flüche von dem hebräischen Polizisten, der sich aus seinem Versteck getraut hatte. Er stieß mich und schrie, ich solle den Scheißaraber loslassen, denn der sei bloß angekommen, um mich umzubringen, die seien doch nur dazu geboren, uns abzuschlachten, und ich sagte, ich hätte nicht gesehen, dass er mich umbringen wollte, aber der Polizist versetzte mir eine Ohrfeige und schrie: Was denn, haben Sie nicht die Leute gesehen, die hier tot umgefallen sind? Was sind Sie für ein Flachkopf. Die Umstehenden misshandelten den armen Mann weiter und verlachten mich, ich würde dem

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