1948 - Roman
Aviv. Flieh schnell und komm nach Erez Israel, denn wenn nicht, stirbst du des Todes.« Nicht einfach »stirbst du« hatte ich geschrieben, sondern »stirbst du des Todes«, das heißt in der Annahme, das deutsche Kind würde wissen, dass die zweite Wendung aus der Schöpfungsgeschichte stammte. Die Briefe wurden in Säcken gesammelt und nach Deutschland und Österreich geschickt. Wir standen im neuen Tel Aviver Hafen, umschwirrt von Mücken und Fliegen, inmitten der schreienden und fluchenden Hafenarbeiter aus Saloniki, und die blassen deutschen und österreichischen Einwanderer, deren Kindern wir vielleicht geschrieben hatten, dass sie des Todes sterben würden, wenn sie nicht schnellstens kämen, kletterten schüchtern vom Schiff in die motorisierten Landeboote, sehr vorsichtig, weil die Dinger schlingerten. So gelangten sie ins Hafenbecken, Männer in Anzügen, Frauen mit Fuchspelzen um den Hals, erschrocken über die pralle Sonne, sogar Skiausrüstungen entdeckte ich. Sie schwitzten in den Booten, und wir, in Shorts und weißen Hemden, standen da und sangen: »Auslaufende Schiffe, kaum noch zu schauen / tausend Hände entladen und bauen. / Wir erobern Wellen und Strände / einen Hafen bauen wir mit der Kraft aller Hände.« Und danach deklamierten wir: »Ho, ha, wer kommt denn da? / Ein Schiff kommt an mit Schornstein dran! / Woher kommt das Schiff gefahren / und was hat’sfür uns geladen? / Es kommt von weit her / Juden warten dort sehr / um mit Rucksack und Wanderstab schnell / aufzusteigen ins Land Israel!«
Die Ankömmlinge dachten sicher, eine Truppe Clowns, klein wie Luftblasen, sei aus einem entfernten Winkel Afrikas hier gelandet. Sie sahen uns mit unseren kurzen Hosen, Kibbuz-Hüten und den derben Sandalen vom Karmel-Markt, hörten uns kreischen und meinten gewiss, Asiaten vor sich zu haben. Sie betrachteten uns abschätzig, weil sie aus Europa kamen, das ihnen nicht mehr gehörte, aber das wussten sie noch nicht. Sie entstammten der Kultur meines Vaters, waren mit Cimarosa und Chambord aufgewachsen, und ich dachte an dieses Europa, das sie nun vertrieb, und an sie, die wahrscheinlich erst eine Woche vor ihrer Ankunft in Tel Aviv in Triest oder einer anderen Hafenstadt eingetroffen waren und die Schiffsreise vermutlich unter wenig komfortablen Bedingungen zurückgelegt hatten, und nun landeten sie in dieser erez-israelischen Katastrophe, die für uns die ganze Welt bedeutete.
Lehrer Blich, »ein müder und das Schicksal der Nation schmerzlich betrachtender Lehrer«, wie er sich selbst bezeichnete, beorderte uns, stehenzubleiben und auf die Juden zu warten. Und sobald wir sie erblickten, schrien wir: Wie gut, dass sie nach Erez Israel gekommen sind. Und das, wo wir freitags Theaterstücke über das Ghetto aufführten, uns dazu Bärte aus gefärbtem Stroh anklebten und Knetgummihöcker auf die Nase setzten, um wie Juden auszusehen, solche, die Salzfische verkaufen, sich lautstark schnäuzen und jiddisch sprechen. Nur wenige unter uns konnten jiddisch, und die, die zu Hause jiddisch sprachen, gaben meist vor, es nicht zu verstehen. Schließlich sind wir die Kinder von Pionieren, skandieren»hebräische Arbeit«, »Hebräer, sprich hebräisch«, und wir gehen in die Kibbuzim, treten das Erbe der hebräischen Wächter an, machen die Wüste fruchtbar, erbauen das Land und werden erbaut. Wir schlagen unsere Angreifer, vertreiben die Briten, werden Helden. Wir deklamierten Brenners Spruch: »Glücklich ist, wer im Geiste von Tel Chai stirbt«, was bedeutete: »Gut ist es, fürs Vaterland zu sterben.« Bloß nicht so hässlich und angsterfüllt werden wie die Juden – das sagten wir dummen Kinder, die wir waren.
Was sind also Juden? Die, die 1938 ankamen, als wir im Hafen vor ihnen standen und ihnen einen Gruß zuschrien? Die, die nicht auf uns gehört hatten? Damals deklamierten wir mit viel Gefühl das Gedicht von Avigdor Hameiri: »Auf Papier, so weiß wie Schnee / kommt ein Brief aus der Diaspora / schreibt eine Mutter unter Tränen: ›Meinem lieben Sohn in Jerusalem, / dein Vater ist tot, deine Mutter krank / kehr heim, lieber Sohn …‹« Und die Antwort: »Auf schlichtem Papier, so grau wie Asche / geht ein Brief in die Diaspora. / Ein Pionier schreibt unter Tränen 1929 in Jerusalem: / ›Verzeih mir, meine kranke Mutter, ich kehr nicht zurück in die Diaspora! / Liebst du mich inniglich, komm her und umarme mich. / Ich bin nicht länger unstet und flüchtig! / Hier gehe ich nimmermehr weg
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