195 - Der goldene Tod
Miene verriet ihm, daß er mit seiner Annahme recht hatte. Da war ein Ausdruck in den Augen des Professors, der ihn ängstigte, deshalb erhob er sich unbeholfen.
»Ist irgend etwas nicht in Ordnung, Henry?« fragte der Geschäftsfreund. »Sie sind auf einmal so blaß.«
Gunn antwortete nicht. Er ließ den Parapsychologen nicht aus den Augen. Lance Selby kam näher. Er schob eine Wand von Feindseligkeit vor sich her.
»Sind Sie meinetwegen hier, Selby?« schnauzte Gunn den Parapsychologen an.
»Der Plan hat nicht funktioniert, du miese Ratte!« fauchte Lance Selby.
»Welcher Plan?«
»Dein Sekretär sollte mich erschießen!« Der Parapsychologe sprach so laut, daß es alle Gäste ringsherum hörten.
»Sie sind verrückt!« empörte sich der runde Geschäftsmann.
»Ich habe den Spieß umgedreht. Dein Sekretär lebt nicht mehr. Ich habe ihm den goldenen Tod beschert, und nun bist du dran.«
»Werft diesen Geisteskranken hinaus!« rief Henry Gunn aufgebracht. Er dachte, die Situation - und sein bedrohtes Leben - mit dem Gewicht seiner Persönlichkeit retten zu können.
Im Hintergrund des Restaurants entstand Bewegung. Drei schmale Thai-Männer wollten eingreifen, doch sie würden zu spät kommen. Obwohl sich Lance Selby nicht mehr regte, war Henry Gunn schon so gut wie tot.
Selby starrte den Geschäftsmann verächtlich an. Gunns Geschäftsfreund wollte ihm beistehen. Er sprang auf. »Hören Sie, Mann, lassen Sie uns in Ruhe! Verschwinden Sie, sonst…!« Mit einem durchdringenden Blick brachte ihn Lance Selby zum Verstummen.
An den umliegenden Tischen standen einige Gäste auf und sahen sich unsicher um. Gunn trug stets eine kleine Derringer-Pistole bei sich - für den Notfall. Und der war jetzt eingetreten, deshalb beschloß er, den Professor mit seiner Waffe einzuschüchtern, damit die anderen ihn überwältigen konnten.
Lance Selby würde nicht wagen, ihn anzugreifen, wenn er ihn mit der Derringer in Schach hielt. Blitzarig stieß seine Hand in die Hosentasche, aber er konnte die Waffe nicht mehr ziehen, denn der Parapsychologe spuckte ihm vor allen Leuten ins Gesicht - und das hatte verheerende Folgen. Flüssiges Gold spritzte auf Gunns Haut heiß auseinander.
Der goldene Tod! schrie es in Henry Gunn. Entsetzt heulte er auf, während sich das flüssige Gold über sein schmerz- und angstverzerrtes Gesicht verteilte.
Fassungslosigkeit griff im Lokal um sich. Niemand konnte glauben, was er sah.
Gunn griff in das flüssige Gold und wollte es sich vom Gesicht wischen, aber er verbrannte sich nur die Finger. Er brach zusammen, riß einen Tisch und einen Stuhl um - und verlor mit dem goldenen Kopf, der sich auflöste, auch sein Leben.
Lähmendes Grauen griff um sich. Niemand dachte daran, Lance Selby daran zu hindern, das Lokal zu verlassen. Mit Sicherheit waren die meisten Gäste froh, ihn nicht mehr zu sehen -und von ihm verschont zu bleiben.
***
Während der falsche Lance Selby -also Rufus - Henry Gunn vor den Augen vieler fassungsloser Menschen tötete, raste der echte im gestohlenen Streifenwagen durch das nächtliche London. Der Parapsychologe war mit dem, was Oda getan hatte, nicht einverstanden, aber es ließ sich nicht ungeschehen machen. Der Geist der weißen Hexe hatte ihn noch tiefer hineingeritten. Obwohl er unschuldig war, kam er sich wie ein Verbrecher auf der Flucht vor, und er spielte mit dem Gedanken, sich der Polizei zu stellen, aber da hätte Oda nicht mitgespielt. Zum ersten Mal war es kein Vorurteil, daß Lance sie in sich trug. Mit Vernunft war ihr nicht beizukommen. Ihr stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden ließ es nicht zu, daß man ihn - und damit auch sie -in eine Gefängniszelle sperrte.
Allzuweit fuhr der Parapsychologe nicht mit dem Streifenwagen, denn das Fahrzeug war ihm zu auffällig. Drüben in Southwark ließ er das Polizeiauto stehen und setzte die Flucht zu Fuß fort, ohne ein Ziel zu haben.
Lance wußte zunächst nicht, wohin, aber dann fielen ihm ein paar Namen von Personen ein, die bestimmt bereit warqn, ihn bei sich aufzunehmen und vor der Polizei zu verstecken. Pater Severin zum Beispiel. Oder die Mitglieder des »Weißen Kreises«. Auch Professor Bernard Haie hätte er um Hilfe bitten können, aber durfte er diese Menschen in Schwierigkeiten bringen, nur weil sie ihm nahestanden?
War es fair, ihre Freundschaft auszunützen und sie in eine Sache hineinzuziehen, die eigentlich nur seine eigene Angelegenheit war?
Natürlich hätten sie ihn nicht
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