196 - Auf der Flucht
Gesicht zog sie sich ein wenig höher und versuchte nach hinten zu blicken. Warum antwortete der Kerl nicht? »Schläfst du?«
Keine Antwort. Sie konnte ihn auch nicht sehen. Ein kalter Schauer durchlief sie. Hatte der Waldmann sich verletzt? Oder…
war er am Ende gar nicht mehr da?
An welcher Stelle dieses wilden Ritts hatten sie und Vogler sich aus den Augen verloren? Wie lange schon rannte der Bunyip unkontrolliert durch die Gegend?
Also gut. Vogler war nicht mehr da. Clarice war nun sicher: Irgendwo unterwegs war der Gefährte verloren gegangen.
Bevor die Panik sie vollends ergreifen konnte, schaltete Clarice um. Ruhe bewahren. Lage analysieren. Plan entwickeln. Komm, schon, Mädel, wozu hast du eine Ausbildung erhalten! Sie atmete tief durch und dachte nach.
Ohne Voglers Beeinflussung war dieses Ungetüm nicht zu steuern. Ein unkalkulierbarer Risikofaktor, der so schnell wie möglich ausgeschaltet werden musste. Es war Zeit abzuspringen.
Sofort! Jeder weitere Schritt brachte sie nur noch weiter von Vogler weg, der vielleicht irgendwo verletzt in der Wüste lag und ihre Hilfe brauchte.
Voller Sorge um ihren marsianischen Gefährten versuchte Clarice, sich aus dem Leinengewirr zu befreien. Sie senkte abwechselnd die Schultern, schob sie unter zwei der Riemen durch, machte ein Hohlkreuz, drückte mit dem Gesäß das Band nach außen, bis sie ihre Hände drunter hervorziehen und die Arme wieder bewegen konnte.
Doch damit war ihr Befreiungskampf auch schon am Ende.
Egal wie sehr sie an der Leine zerrte, millimeterweise vor und zurück robbte oder mit den Fingernägeln versuchte, das Leder zu durchtrennen, sogar durchzubeißen, es war alles vergebens. Sie war gefangen.
»Halt endlich an! Scheißviech, bleib stehen!«
Der Bunyip rannte stur weiter, ohne auf ihre Fußtritte und Schläge zu reagieren.
Clarice hatte genug vom ewigen Kampf. Wie mit den Schergen despotischer Machthaber in Sydney, mit prähistorischen Ungeheuern tief unter dem Meer oder mit wahnsinnig gewordenen Riesenwaranen am Uluru. [6] [7] Clarice war schon nah dran gewesen, in der Enge einer Transportqualle erstickt zu werden, in einer unwirklichen Hydree-Kultstätte zu ersaufen, oder gar in der Traumzeit im Zerrbild des Mars stecken zu bleiben.
Und jetzt ging sie wahrscheinlich bei dem Höllenritt auf einem verrückten Riesentier drauf.
Die ganze Nacht hindurch kämpfte Clarice mit ihren Fesseln, bis die ersten Sonnenstrahlen den Himmel in ein Bild aus Rot- und Orangetönen verwandelten.
Der Tag brachte wie gewohnt mörderische Hitze und Trockenheit mit sich. Doch der Bunyip kannte kein Erbarmen. Ohne Rast wanderte er weiter, immer Richtung Westen, einem unbekannten Ziel entgegen.
Am Nachmittag spiegelte sich die Glut als riesiger Sonnenbrand auf Clarices Körper. Immer häufiger verlor sie das Bewusstsein.
Doch die erlösende Schwärze spuckte sie wieder aus, zurück in den brennenden Alptraum. Sie sah Dünen aus rotem Sand, so weit das Auge reichte, glaubte sich im Delirium zurück auf dem Mars und rief nach Vogler, bis das Dunkel sie erneut übermannte.
Als Clarice schließlich erwachte und statt des Schnaufens des Bunyip nur ein leises Zirpen vernahm, glaubte sie sich in der ersten Sekunde tot und im Jenseits. Sie schluckte, ihre Kehle war quälend trocken, und sie erkannte: Nicht ihr Leben, sondern die Reise des Untiers näherte sich dem Ende.
Mühsam hob sie den Kopf und blickte nach vorn, so weit sie den Kopf verdrehen konnte. »Wasser!«, krächzte sie kichernd aus verdorrter Kehle, als sie im Dämmerlicht die Umrisse eines Billabongs erkannte. Mehrere Reihen Sträucher wuchsen am Ufer.
Doch die Freude währte nur kurz.
»Halt! Stopp!« Clarice holte hastig Luft, als der Bunyip sich in die Fluten stürzte. Er scharrte mit den Füßen im Schlamm, prüfte ausgiebig die Qualität des Wassers und warf sich schließlich hin und her, bis er von oben bis unten vor Nässe triefte.
Clarice war die meiste Zeit untergetaucht und drohte zu ertrinken.
Sie strampelte und zerrte an ihren Fesseln und tatsächlich – das Leder dehnte sich, wurde geschmeidig.
Nachdem sie die erste Schlinge abstreifen konnte, ging es auf einmal ganz leicht. Und das war auch höchste Zeit. Clarice stieß sich vom Körper des Bunyip ab und durchbrach japsend die Wasseroberfläche.
Frei! Und nicht ertrunken! Euphorie übertünchte die Schmerzen und ließ Clarice auflachen. Ein Fehler, wie sie zu spät erkannte. Der Bunyip hielt inne und richtete sein
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