196 - Auf der Flucht
mir!«
Unbeeindruckt strich sich Gil über den Bart, nahm einen Brotkrümel zwischen die Finger und hielt ihn dem Budgerigar hin.
»Manchmal sehen die Kleinsten klarer. Hör beizeiten auf deinen gefiederten Freund und du wirst den Retter finden.«
»Wo soll ich suchen?«
»Du kennst den Weg.«
Yunupi sprang auf. »Machst du dich lustig über mich? Es geht um das Überleben meines Stammes!«
Gil lachte. »Dann solltest du dich unverzüglich auf den Weg machen, Junge.«
Yunupi griff wütend nach Stock und Umhängetasche und verließ das Haus.
»Vergiss nicht, am Brunnen deinen Trinkschlauch zu füllen«, rief ihm der Anangu fröhlich hinterher.
Das würde er ganz bestimmt nicht vergessen. Yunupi hielt sich die Hand schützend über die Augen und blickte sich um. Es war später Mittag. Die Hitze griff augenblicklich zu, drückte ihm auf die Lunge und züngelte wie in freudiger Begrüßung über seinen wunden Körper.
Von außen sah Gils Zuhause wie ein graues Ei aus, das inmitten eines bizarren Friedhofs abgelegt worden war. Die Hütte stand direkt am Haywee, umgeben von in den Himmel ragenden Trümmern, riesigen verstaubten Maschinen und verrottenden Transportgefährten. Ein weißer Stoffballon tanzte hoch oben an einem Mast im heißen Wind.
Yunupi hörte ein Plätschern und folgte ihm. Am Wegesrand stand ein gut vier Mannslängen hohes, dreibeiniges Gerüst mit einem Windrad. Der Windantrieb förderte Wasser aus dem Erdreich an die Oberfläche.
Also gut, mehr Unterstützung hatte er wohl nicht zu erwarten.
Dann zog er eben allein und ohne Hilfe weiter – Geistersprecher hin oder her. Die Alten waren doch überall gleich.
Yunupi füllte den Schlauch, hielt den Kopf kurz unter den Strahl und machte sich auf den Weg; weiter den alten Pfad entlang Richtung Osten, den sagenumwobenen brennenden Dünen entgegen.
***
Am Schluss schrie Vogler doch. Er konnte es nicht vermeiden und war froh, dass ihn niemand hören konnte.
Er hielt es nicht mehr aus. Diese lastende Enge in der tiefen Schwärze, die Ungewissheit über den Ausgang, und die scheußlichen Tiere, die eine Party auf seinem Körper feierten und ihn ganz langsam und genüsslich auffraßen…
Doch dann war der Engpass endlich vorbei. Der Waldmann spürte, wie der Felsen sich über ihm zurückzog und seinen Rücken freigab, dann bemerkte er ein zartes Dämmerlicht irgendwo hoch oben, und die Luft war plötzlich milder.
Vogler schwang die Beine herum, sprang auf und hüpfte wie ein Wilder auf und ab, um die widerlichen Krabbeltiere loszuwerden, die in Massen an ihm hingen, sich unter die zerrissene Kleidung gebohrt hatten und über seine Haut trippelten, bissen und zwickten und Säure absonderten. Vogler schlug um sich, hörte es knacken, rutschte auf glitschigen Kadavern aus, zerquetschte mit bloßen Händen die Biester in einer Wut, die jegliches Ekelgefühl überdeckte.
Während er die letzten Insekten von sich abstreifte, stolperte er in eine Tropfsteinhöhle hinein und freute sich über den Hauch von Licht, der ihm endlich wieder die Welt zeigte.
Der Fluss hatte sich hier seinen Weg auf ganz verschiedene Weise gesucht, aber das war Vogler in diesem Moment herzlich egal, selbst wenn er endgültig in der Falle sitzen mochte. Er war viel zu erleichtert, diesen fürchterlichen Engpass endlich hinter sich zu haben. Noch nie hatte er sich so lebendig gefühlt.
Der Waldmann orientierte sich kurz, verließ sich auf seine Sinne, die auch im tiefsten Dickicht des Waldes niemals versagt hatten, und durchquerte die Höhle. Nach einiger Zeit fand er einen Durchgang, nicht viel mehr als eine schmale Röhre, und er musste sich bücken und in die Knie gehen. Aber es war zu schaffen.
Nach einigen Biegungen erwärmte sich die Luft zusehends, und es wurde heller. Vogler gestattete sich einen leisen Jubelschrei, denn er hatte es tatsächlich geschafft.
Es hatte sich gelohnt, das Wagnis einzugehen! Der Alte Vater war also immer noch mit ihm, selbst auf der weit entfernten Schwesterwelt, und hielt seine schützende Hand über die Kinder des Mars. Auch dies war eine weitere Prüfung gewesen, um Vogler auf seine wahre Aufgabe vorzubereiten.
Nun würde es weitergehen. Clarice war sicher nicht mehr fern.
Vogler vertraute darauf, dass sie noch lebte. Bestimmt gab es eine gute Erklärung, warum sie nicht umgekehrt war. Eine, in der Clarice nicht verletzt oder sterbend irgendwo lag, einsam und verzweifelt und mit gebrochenem Herzen, weil Vogler sie im Stich gelassen
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