197 - Der Geist im Kristall
Vertrauensbeweis – oder ein raffinierter Trick? Er war gewillt, Ersteres anzunehmen.
Rulfan zog seine Füße von der Bank und setzte sich auf.
»Du hättest eingegriffen?«, fragte er scheinbar arglos.
»Ich bin ein Wandler! Meine Spezies gehört zu den ältesten Wesen im Universum! Glaubt ihr denn, ich hätte zugelassen, dass diese dummen Kreaturen eure Erde der Sonne annähern und damit ihre Oberfläche verflüssigen?« In der Stimme von Victorius schwang Empörung. »Das wäre die Negierung des Lebens an sich!«
Aber nicht ihr Klang, sondern was sie sagte, brachte Rulfan und Matthew aus der Fassung. Sie starrten Victorius an, als sei er ein Gespenst. Nicht im Traum wären sie darauf gekommen, dass »Projekt Daa’mur« in einem solchen Vorhaben gipfeln könnte: die Erde aus ihrer Umlaufbahn zu schieben!
»Das darf nicht wahr sein!«, keuchte Rulfan. »Sie wollten uns braten!«
Matthew stand auf. Ihm war schwindelig. Ein weiterer Puzzlestein fügte sich mit einem urgewaltigen Krachen ein: die Prophezeiung der Nosfera! Sie sprach von »der Zeit, in der die Sonne wächst«. Bislang hatte er gedacht, damit sei der Atomblitz der gewaltigen Explosion am Kratersee gemeint gewesen. Nun erkannte er ihre wahre Bedeutung. [6]
Etwas, das wie ein Stöhnen klang, kam von Victorius’
Lippen. »Ihr habt es nicht gewusst! Vielleicht hätte ich es nicht erwähnen sollen.«
Matt schüttelte seine Benommenheit ab. »Wie bitte? Nicht erwähnen? Die unbedeutende Tatsache, dass die Daa’muren unsere Erde verflüssigen wollten?« Er sah Victorius wütend an.
»Nein, es ist gut, dass du es erwähnt hast! Es macht deutlich, wie gefährlich und skrupellos diese Echsen sind. Du hast gesagt, es gäbe Widerstand in ihren Reihen. Was, wenn sie einen Weg finden, dich auszuschalten? Wenn sie die Kontrolle über Gravitationsverstärker erlangen?«
»Das werde ich verhindern!«
»So wie du ihre Experimente verhindert hast? So wie du ihren Gebrauch der Nuklearwaffen verhindert hast? Bist du wirklich mehr als eine körperlose Stimme? Wer sagt uns denn, dass du ihnen nicht hilflos ausgeliefert…«
Matt verstummte, als die Kabine des Luftschiffes plötzlich zu vibrieren begann. Geräte und Geschirr in den Wandschränken klirrten, das Fernrohr auf dem Kartentisch schlug gegen die Haltebügel der Holzplatte, über ihr schwankte die Öllampe hin und her. Die Wände der PARIS knarrten und ächzten unter zunehmend stärker werdenden Erschütterungen.
Rulfan klammerte sich an der Reling fest. Matthew Drax schwankte und stolperte auf den roten Sessel zu. Er verlor den Halt und stürzte direkt vor die Füße des schwarzen Prinzen, der stoisch in seinem Sessel thronte.
Plötzlich endeten die Erschütterungen! Es wurde ruhig.
Gespenstisch ruhig!
Wenigen Sekunden später durchbrach Victorius’ Stimme die Stille. »Glaubt ihr wirklich, ich hätte nicht die Macht, euer Schiff in seine Bestandteile aufzulösen? Sagte ich nicht, dass ich ein Wandler bin? Wie kleingeistig sind die Menschen, dass sie nur glauben, was sie sehen und am eigenen Leibe fühlen!«
Matthew Drax war, als hätte jemand einen Eimer kaltes Wasser über seinem Kopf ausgeleert. Umständlich kam er auf die Beine. »Wir sind eben Menschen und keine allwissenden Götter!«, gab er zurück. »Zudem Menschen, von deren Entscheidung vielleicht die Zukunft ihrer ganzen Spezies abhängt. Da ist es mit Vertrauen allein nicht getan.« Er begegnete kurz Rulfans Blick. »Wenn du uns sagen würdest, was dich und den Finder verbindet, würde das unsere Vorstellungskraft erheblich fördern!«
Der Albino hob hilflos die Schultern. Er erwartete nicht, dass der Wandler auf Matts Forderung eingehen würde. Aber er irrte.
»Also gut, Mefju’drex. Ich werde euch meine ganze Geschichte offenbaren. Kommt herunter zu mir! Ich gehe das Risiko ein und lade euch in mein Herz ein, zu den uralten Kristallen, mit denen ich euch zeigen werde, was ihr wissen wollt.«
***
Am Kratersee
Das Ringgebirge schimmerte grau im Morgenlicht. Die dem Kratersee zugewandten Steilwände und Hänge wirkten verlassen. Doch der Schein war trügerisch! Zwischen den Felsformationen, die die Höhlen und Grotten des Gebirges vom Kratersee trennten, bewachten Daa’murenverbände die Zugänge zum Becken. Wer zum Wandlermassiv wollte, musste an ihnen vorbei; ein aussichtsloses Unterfangen.
Seit Liob’lan’taraasis den Lun der Wana ausgelöscht hatte, versuchte niemand mehr den Wandler zu erreichen. Und schon wieder war
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