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1974

1974

Titel: 1974 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Peace
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intensive Suche der Polizei, die die ganze Nacht über andauerte, führte zu keinerlei Hinweisen auf den Verbleib von Clare Kemplay.
    Okay, der Rest bleibt …
    Danke, meine Liebe …
    Nein, bis dahin bin ich damit durch, außerdem lenkt es mich ein wenig ab …
    Bis bald, Kathryn.«
    Ich legte auf und schaute auf die Uhr meines Vaters :
    Zehn nach zehn.
    Ich ging den Flur entlang zum Hinterzimmer und fand, daß ich das richtig gut hingekriegt hatte.
    Susan, meine Schwester, stand mit einer Tasse Tee am Fenster und schaute hinaus in den Garten und den Nieselregen. Meine Tante Margaret hockte am Tisch, eine Tasse Tee vor sich. Tante Madge saß im Schaukelstuhl und balancierte ihre Tasse auf dem Schoß. Im Sessel meines Vaters neben der Anrichte saß niemand.
    »Bist du fertig?« fragte Susan, ohne sich umzudrehen.
    »Ja. Wo ist Ma?«
    »Oben, mein Lieber, sie zieht sich an«, sagte Tante Margaret, stand auf und nahm ihre Tasse und Untertasse. »Möchtest du einen Tee?«
    »Nein, danke.«
    »Die Wagen kommen gleich«, meinte Tante Madge.
    »Ich geh jetzt besser und zieh mich um«, sagte ich.
    »Ist gut, mein Lieber. Geh du nur. Ich koch dir einen Tee, bis du wieder runterkommst.« Tante Margaret ging in die Küche.
    »Glaubst du, Ma ist fertig im Bad?«
    »Frag sie doch selber«, sagte meine Schwester zum Garten und zum Regen hin.
    Die Treppe rauf, zwei Stufen auf einmal, so wie früher; scheißen, rasieren, duschen, fertig; ich dachte, besser wäre wichsen und waschen, und plötzlich fragte ich mich, ob mein Vater jetzt meine Gedanken lesen konnte.
    Die Badezimmertür stand auf, die Tür zum Zimmer meiner Mutter war zu. Auf dem Bett in meinem Zimmer lag ein sauberes weißes, frisch gebügeltes Hemd, daneben der schwarze Schlips meines Vaters. Ich stellte das Radio in Form eines Schiffs an, und David Essex versprach mir, mich zu einem Star zu machen. Ich betrachtete mein Gesicht im Schrankspiegel und sah meine Mutter, die im rosa Schlüpfer in der Türöffnung stand.
    »Ich hab dir ein sauberes Hemd und einen Schlips rausgelegt.«
    »Ja, danke, Ma.«
    »Wie lief’s heute morgen?«
    »Ganz gut.«
    »War im Radio gleich die erste Meldung.«
    »Ach ja?« sagte ich und unterdrückte die Fragen.
    »Hört sich nicht gut an, oder?«
    »Nein«, antwortete ich, hätte aber lieber gelogen.
    »Hast du die Mutter gesehen?«
    »Ja.«
    »Armes Ding«, sagte meine Mutter und schloß die Tür hinter sich.
    Ich setzte mich aufs Bett und das Hemd und starrte das Fußballposter von Peter Lorimer an der Tür an. Ich dachte an seine Schußkraft, 145 km/h.
     
    Die Prozession der drei Wagen kroch Dewsbury Cutting hinunter durch die noch dunkle Weihnachtsbeleuchtung der Innenstadt, dann langsam die andere Talflanke hinauf.
    Mein Vater lag im ersten Wagen. Meine Mutter, meine Schwester und ich saßen im nächsten, der letzte war vollgestopft mit Tanten, echten und Nenntanten. In den ersten beiden Wagen sprach keiner ein Wort.
    Als wir beim Krematorium ankamen, hatte sich der Regen etwas gelegt, doch als ich an der Eingangstür stand, peitschte mich der Wind noch immer, und ich jonglierte hin und her zwischen Händeschütteln und einer Zigarette, die ich nur mühsam angezündet bekommen hatte.
    Drinnen hielt ein Ersatzmann die Totenrede; der Vikar unserer Familie war zu sehr damit beschäftigt, den eigenen Krebs zu bekämpfen, auf derselben Krankenstation, die mein Vater am frühen Mittwochmorgen verlassen hatte. Also hielt dieser tolle Ersatz eine Totenrede auf einen Mann, den weder er noch wir jemals gekannt hatten, und machte ihn zum Schreiner, obwohl er Schneider gewesen war. Ich saß da, regte mich auf, welche journalistische Freiheit man sich da herausnahm, und dachte, diese Leute sind völlig behämmert.
    Ich starrte auf die Kiste drei Schritte vor mir, dachte an eine kleinere weiße Kiste und die Kemplays in Schwarz und fragte mich, ob der Vikar auch deren Totenfeier versauen würde, wenn man Clare erst mal gefunden hatte.
    Ich sah auf meine Finger, die die kalte Holzbank so fest umklammerten, daß sie alles Blut verloren hatten und weiß wurden, warf einen Blick auf die Uhr meines Vaters unter der Manschette und spürte eine Hand auf meinem Ärmel.
    In der Stille des Krematoriums flehten die Augen meiner Mutter mich an, die Fassung zu bewahren, der Mann gebe zumindest sein Bestes, und die Einzelheiten seien nicht immer so wichtig. Neben ihr meine Schwester, deren Make-up ganz verwischt, fast weg war.
    Und dann war auch er fort.
    Ich

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