198 - In der Spiegelwelt
schlechtes Gewissen«, brummte Noel Bannister. »Ich wollte dich hier dabeihaben, weil du über mehr Erfahrung verfügst als ich, aber Frank Esslins Befreiung hätte ich natürlich Vorrang gegeben. Warum hast du nichts gesagt?«
Ich zuckte die Achseln. »Roxane und Mr. Silver kommen auch ohne mich zurecht.«
»Wenn es ihnen gelingt, Frank aus der Spiegelwelt zu holen, muß der Kerl mit der Dämonenhaut hinüber, nicht wahr?«
Ich nickte. »Egal, wo er sich aufhält. Das ist ein ehernes Gesetz.«
»Könnte Atax nicht theoretisch hergehen und jeden von uns gegen seinen bösen Spiegel-Bruder austauschen?«
»Damit würde er das bestehende Gleichgewicht so sehr stören, daß die gesamte Ordnung zusammenbräche. Deshalb ist es ihm vom Rat der Hölle untersagt. An einer total aus den Fugen geratenen Welt hat die schwarze Macht kein Interesse. Sie möchte eine intakte Welt übernehmen, das ist ihr Bestreben. Diesen übergeordneten Plan darf Atax nicht gefährden, sonst ist er die längste Zeit Herrscher der Spiegelwelt gewesen.«
»Wenn es Roxane und Mr. Silver schaffen, den guten Frank Esslin rüberzuholen…«
»Wird man Atax dafür zur Verantwortung ziehen«, sagte ich.
»Was blüht ihm dann?« fragte Noel. »Wird man ihn absetzen? Ächten? Verbannen?«
»Wenn wir Glück haben, wird es ihn das Leben kosten«, antwortete ich eisig. »Loxagon kennt keine Gnade. Er ist härter und grausamer als sein Vater.«
»Gibt es keine Hoffnung mehr für Asmodis?«
»Soviel ich weiß, nein.«
»Was ist das für eine Krankheit, die es schafft, den Höllenfürsten umzubringen, Tony?«
»Ich weiß es nicht, Noel. Ich hoffe nur, daß sie nie auf der Erde ausbricht. Wohin fahren wir eigentlich?«
»Ich habe für uns in Brooklyn ein Haus organisiert. Ist gemütlicher, als in ’nem Hotel zu wohnen. Dort kann sich Boram gefahrlos zeigen, ohne daß ein unverhofft eintretendes Zimmermädchen bei seinem Anblick gleich in Ohnmacht fällt.«
Das Haus stand auf einem großen Grundstück und war von einer dichten immergrünen Wand umgeben. Neugierige Blicke hatten keine Chance durchzukommen. Die Terrasse war mit Kunstmarmor belegt, und eine breite Treppe führte zu einem nierenförmigen Schwimmbecken hinunter.
»Das Haus gehört einem Millionär«, informierte mich Noel. »Wenn wir uns nicht in Übersee für ihn starkgemacht hätten, wäre er heute arm wie eine Kirchenmaus. Er hätte sein gesamtes Vermögen verloren. Nun haben wir einiges bei ihm gut.«
Die luxuriöse Unterkunft ließ nichts zu wünschen übrig. Noel zeigte mir mein Zimmer, ich duschte, zog mich um und begab mich in den Living-room, wo mich mein Freund mit einem Pernod überraschte.
»Na, ist das ein Service?« fragte Noel grinsend.
»Ich bin begeistert.«
Boram war inzwischen sichtbar geworden. Schweigsam wie immer stand der Nessel-Vampir in unserer Nähe. Er beteiligte sich nie an irgendwelchen Unterhaltungen. Nur wenn man ihn direkt ansprach, antwortete er - zumeist sehr knapp, aber präzise. Wir waren seine Wortkargheit gewöhnt und bezogen ihn nicht in unser Gespräch mit ein.
Noel zeigte auf das Telefon. »Möchtest du Vicky anrufen?«
Ich hatte das tatsächlich vor.
Noel bat mich, zuerst ihn mit Vicky sprechen zu lassen. Ich hatte nichts dagegen. Er wählte meine Nummer in London und hatte gleich darauf meine Freundin an der Strippe. Nachdem er seine lockeren Sprüche losgeworden war, übergab er mir den Hörer, und ich unterhielt mich über den Atlantik hinweg mit Vicky, als befände sie sich im Nachbarhaus.
Nach dem Gespräch meinte Noel grinsend: »Es ist mir unbegreiflich, daß du immer noch Junggeselle bist. Vicky ist eine Traumfrau. Jeder andere Mann würde dafür Sorge tragen, daß sie ihm nicht weglaufen kann, indem er sie heiratet.«
»Ein Trauschein ist keine Garantie dafür, daß sie bleibt«, erwiderte ich. »Wenn eine Frau einen Mann verlassen will, kann nichts sie davon abhalten.« Ich musterte meinen amerikanischen Freund argwöhnisch. »Sag mal, hat Vicky dir diesen Floh ins Ohr gesetzt?«
»Kein Wort hat sie gesagt. Wie kommst du darauf?«
»Kürzlich meinte Vicky, daß ein ganz normales Leben an meiner Seite sie sehr glücklich machen würde.«
»Wundert dich das? Vicky ist eine ganz normale Frau. Warum sollte sie nicht so empfinden?«
»Ich hatte angenommen, sie wäre mit dem Leben, das wir führen, zufrieden. Wir waren schon vor langem übereingekommen, daß eine Heirat bei der Gefährlichkeit meines Jobs nicht in Frage
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